Ein Premierenabend in der Mailänder Scala, das Werk eines modernen Franzosen (mit Namen Pierre Großkopf) gelangt zur Aufführung und der alte Kapellmeister Claudio Cottes lässt sich dies nicht entgehen. Obwohl er der Modernität in der Musik fremd, skeptisch gegenübersteht, einer Modernität, der auch sein wenig erfolgreicher Sohn huldigt. Und von der eigentümlichen Stimmung in der Stadt lässt sich Cottes ebenfalls nicht abhalten, ein politischer Umbruch drohe, ein Umsturz, gar eine Revolution von seiten der „Morzisten“, einer Partei, die sich zusehends Einfluss gesichert hat in den letzten Monaten. Ein seltsamer Anruf, der seinem Sohn gilt, steigert noch die Unruhe des Vaters, doch auf die Premiere verzichten – nur einer Stimmung wegen?
Der „Bethlehemitische Kindermord“ wird gegeben, ein Stück, das in Frankreich großen Erfolg hatte, aber auch unterschiedliche politische Interpretationen erfuhr – von einer Kritik Hitlers bis zur Verharmlosung des Faschismus war da zu lesen. Cottes sitzt da, hört, bleibt weitgehend unberührt von der Musik, sieht vielmehr zur Loge der führenden Morzisten, die da ausdruckslos zu dritt verharren – und nach Ende des zweiten Aktes plötzlich verschwunden sind. Und in der Pause wird Cottes von einem scheinbar Unbekannten wieder auf seinen Sohn angesprochen, der sich doch ein wenig vorsehen, achtgeben solle, aber noch bevor Cottes Fragen stellen kann beginnt der letzte Akt – und der Mann ist verschwunden.
Nach Ende der Aufführung der Empfang für die Ehrengäste, den Komponisten, die Bourgeoisie, Cottes als altgedientes Mitglied der Scala unter ihnen, doch die eigenartig angstvolle Stimmung bemächtigt sich nun auch der anderen, Gerüchte gehen um, werden verstärkt, bestätigt, für falsch erklärt. Aber es ist unzweifelhaft: Etwas ist im Gange, man lauscht auf die Geräusche der Stadt, selbst die Stille scheint verdächtig, niemand wagt sich auf den Heimweg, erste Zwistigkeiten, einige werden des Komplotts mit den Morzisten verdächtigt, doch alle eint das Gefühl der Angst, des Außergewöhnlichen. Stunden vergehen, auch telefonisch erhält man nur ungenaue Auskünfte, Cottes ruft seinen Sohn an, weiß ihm aber dann nichts zu sagen: Es könnte ja sein, dass das Telefon abgehört wird. Und so spricht er dem Champagner reichlich zu, er, der ansonsten nicht zu trinken pflegt, verbringt die Nacht mit der in sich befehdende Gruppen zerfallenden Gesellschaft. Erst gegen morgen fasst er sich ein Herz, geht auf die Straße, stolpert, fällt der Länge nach hin. „Man hat ihn umgebracht …“ In der Dämmerung beginnt sich langsam das Leben zu regen, eine Blumenverkäuferin erscheint, draußen ein Straßenkehrer, der sich über den ächzenden Cottes beugt, ihm aufhilft. Und Meister Cottes taumelt heimwärts.
Die sich selbst in Unruhe und Aufruhr versetzende Gesellschaft, die autosuggestive Kraft ihrer Angst, ihrer Gedanken, die sich langsam ausbildende Überzeugung einer drohenden, übermächtigen Gefahr: Ein wirklich gelungenes Beispiel für die Macht von Gerüchten, die da aus dem Nichts entstehen und denen alles und jedes untergeordnet wird. Und ein Beispiel für die Brüchigkeit gesellschaftlicher Bindungen, das zerbrechliche Band vorgeblicher Solidarität. Nichts passiert in Buzzatis Erzählung – und man darf mehr als froh darüber sein – angesichts der Menschen.
Dino Buzzati: Panik in der Scala. Stuttgart: DVA 1964