Tanizaki Jun’ichirō: Tagebuch eines alten Narren

Lass Dich, geneigter Leser, geneigte Leserin, nicht von der Verlagswerbung verführen, die im Zusammenhang mit dem Tagebuch eines alten Narren von einem Klassiker der erotischen Weltliteratur spricht. Das Buch ist ungefähr so erotisch wie der Tagesrapport einer Pflegefachkraft in einem Altenheim.

Lass Dich, geneigter Leser, geneigte Leserin, auch nicht abschrecken von den ersten zwei Seiten des Romans. Er steckt voller Fachtermini und Namen aus der Szene des traditionellen japanischen Kabuki-Theaters. Das kommt nachher nicht mehr vor, und der Roman enthält sich auch sonst im Grossen und Ganzen Hinweisen auf typisch Japanisches oder eine traditionelle japanischen Sichtweise.

Wir haben hier das Tagebuch eines alten (nämlich 76 Jahre alten) Mannes vor uns, der nach einem leichten Hirnschlag, den er vor ein paar Jahren erlitten hat, immer hinfälliger wird. Wir befinden uns im Japan der Mitte der 1960er. Der alte Mann, Utsugi, scheint recht wohlhabend zu sein; er kann sich jedenfalls ein Haus in Tokio und auch sonst so einiges leisten. Im Erdgeschoss des Hauses wohnen er und seine Frau, im ersten Stock sein Sohn Utsugi Jōkichi und die Schwiegertochter Satzuko.

Der alte Utsugi schreibt Tagebuch. Es setzt ein mit dem Besuch einer Kabuki-Aufführung, die den Alten dazu bringen, sich früherer von ihm besuchter Aufführungen zu erinnern, sich früherer Schauspieler zu erinnern. Im Kabuki-Theater werden auch die Frauenrollen von Männern gespielt. Der Darsteller der Frauenrolle fasziniert Utsugi. Utsugis Gedanken wandern – doch nicht hin zu einem Vergleich von früher und heute, wie man es vielleicht erwarten könnte. Er erinnert sich daran, wie er einst für gutes Geld einen solchen Frauen-Darsteller dazu gebracht hat, mit ihm zu schlafen, wie wenn er tatsächlich eine Frau wäre. Noch jetzt erinnert sich Utsugi daran, dass es dem Schauspieler ganz und gar gelunen war, ihm die Illusion, mit einer Frau zu schlafen, zu lassen – und das, obwohl Utsugi durchaus den prächtigen Penis des Mannes bemerkt hat. (Das ist denn auch – bemerkenswert für einen vermeintlich erotischen Roman – das einzige Mal, dass dieses Organ genannt wird. Das weibliche Sexualorgan, Brüste oder Hinterteile werden gar nie erwähnt.) Es scheint, als ob Utsugi schon immer Schönheit nur über Sexualität hätte ganz verstehen können.

Utsugi ist, trotz Kabuki-Besuchs, keineswegs ein der Tradition verhafteter Mann, im Gegenteil. Er hat sich z.B. in seinem Haus ein Badezimmer nach westlichem Massstab einbauen lassen, mit Kacheln und ganz in Weiss. Seine Frau hingegen benutzt noch immer ein traditionelles Badezimmer, ganz aus Holz. So trifft die moderne Lebensweise in derselben Familie auf die traditionelle.

Utsugi hat sein Tagebuch begonnen, weil er sich einer Veränderung seines Denkens bewusst wird: Seine Sexualität, die sich schon lange nur noch in seinem Kopf abspielt, hat ein neues Ziel bekommen. Er begehrt seine Schwiegertochter, bzw. er begehrt von ihr herunter gemacht zu werden. Satzuko war früher Tänzerin in einem Variété. Sie ist ein selbstsüchtiges Biest, das sich für kleine Liebesdienst vom Schwiegervater teuer bezahlen lässt. Zugegeben, der hat auch nur noch kleine Wünsche: Er möchte ihre Füsse nackt sehen, ihre Zehen küssen. Schon ihr Anblick in traditioneller japanischer Bekleidung, in jenen Socken, bei denen der grosse Zeh separat gehalten wird, bringt ihn in Ekstase. Wir haben also masochistische Tendenzen vor uns, gepaart mit einem Fuss-Fetischismus. Als der Alte seiner Schwiegertochter einmal die Füsse küssen darf und anschliessend wieder in sein Krankenzimmer zurückkehrt, erschrickt die immer anwesende Pflegerin ob seines hochroten Kopfs. Dabei ist es nur natürlich, dass dem Alten, dem das Blut nicht mehr in den Kopf seines Penis steigt, das Blut nun dorthin steigt, wo seine Sexualität einzig noch stattfindet.

Tanizaki Jun’ichirō stellt in seinem Roman Schönheit und Sexualität einander gegenüber, ebenso Alter und Tradition. Der Frauendarsteller des traditionellen Theaters als Objekt der sexuellen Begierde wird zur Tänzerin im modernen Variété. Tanizaki Jun’ichirō stellt aber auch Schönheit und Sexualität zusammengefasst der zusammengefassten Welt von Alter und Tradition gegenüber. Denn das Alter ist auch die Hässlichkeit. Ob nun Utsugi mit vielen Details sein hässliches, zahnloses Altmännergesicht beschreibt, oder ob beschrieben wird, wie er sich bei seinen Schwächeanfällen im Bett liegend einnässt, seine Ausscheidungen weder vorne noch hinten halten kann: das Alter ist nichts Schönes.

Der Autor ist ganz für das Neue: Als Utsugi nach einem Besuch aus Kyoto heimkommt, wo er sein Grab ausgesucht hat, wird er von der Familie abgeholt und in einem Rollstuhl aus dem Bahnhof gebracht. Es ist nur ein Satz, den der Alte dabei über seine Frau verliert. Die alte Dame, selber nicht mehr gut zu Fuss, bleibt weit zurück. Selbst im Rollstuhl kommt das Neue schneller und besser voran als das Traditionelle.

Im Übrigen, und das ist der besondere Trick von Tanizaki Jun’ichirō, ist es gar nicht so sicher, ob die Schwiegertochter tatsächlich so ein selbstsüchtiges Biest ist, wie sie uns im Tagebuch vorgestellt wird. Wir haben als Leser keine Kontrolle, was vom Erzählten Realität ist, was der Phantasie des alten Manns entsprungen ist. Selbst die zum Schluss angehängten Berichte von Ärzten und weiteren Verwandten Utsugis helfen nur bedingt weiter. Wir erfahren zwar so, als die Aushubarbeiten für einen Swimming Pool beginnen, den der Alte für Satzuko anlegen lassen will (sie wünscht es, weil sie nicht ständig in ein öffentliches Bad gehen will, um schwimmen zu können, er will es bauen lassen, damit er die Möglichkeit hat, Satzuko im Badeanzug zu sehen – das heisst vor allem, ihre nackten Füsse sehen zu können), dass gerade die als selbstsüchtiges Biest geschilderte junge Frau den Bau einstellen lassen will:

Im Sommer kann ojisan bestimmt nicht mehr aus dem Haus!

Und es ist ausgerechnet der Sohn Jōkichi, den der Vater nie mochte, eigentlich nie beachtete und von dem er bis heute nicht weiss, womit er eigentlich sein Geld verdient – ausgerechnet dieser Sohn ist es, der für den Vater einsteht:

Allein die Tatsache, dass Vater den Arbeitern am Schwimmbassin zusehen kann, erlaubt ihm die verschiedensten Fantasien!

Wohl kaum ein Klassiker der erotischen Weltliteratur also – aber eine durchaus lesenswerte Parabel über das Altern und das Sterben, über das Alte und das Neue, über die Vergänglichkeit des Neuen und die Permanenz des Alten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert