Die Erzählstruktur hat allerdings nichts zur Beseitigung dieser Skepsis beigetragen: Ich liebe es nicht, wenn da irgendein vorgeschobener Erzähler von irgendjemand vermeintlich „interessante“ Manuskripte erhält und selbige, weil ihr Inhalt gerade dazu verpflichtet, zu veröffentlichen sich gezwungen fühlt. (Im Grunde will da zumeist ein Autor nicht „ich“ sagen, obwohl er das gerne möchte: Etwas, das auch in diesem – sehr autobiographisch angelegten Roman – der Fall ist.) Hier jedenfalls sind es drei Hefte und drei Fotografien, die mit kurzer Einleitung als auch kurzem Schluss dem Leser präsentiert werden: Die Fotografien sind abstoßend, obschon der Abgebildete ein äußerlich attraktiver Mensch ist, die Aufzeichnungen sind eine Selbstanklage, sie berichten von einem „schändlichen Leben“.
Yozo wird als letztes Kind einer 10köpfigen, gutsituierten Familie geboren, spürt schon sehr früh eine Verunsicherung gegenüber allen Menschen, derer er sich mit Clownerien zu erwehren versucht. Dieses Spiel wird ihm zur zweiten Natur, es ist seine Art, mit der von ihm schon bald als falsch und verlogen erkannten Welt umzugehen. Alles dient ihm nur dazu, seine Verunsicherungen zu verbergen, seine Angst vor den anderen vermischt sich mit der Angst, dass sein Spiel durchschaut werden könnte. Doch nur selten gibt es jemanden, der tiefer zu blicken imstande ist und so führt er zunehmend das Leben eines Bohemiens, der mit seinem angenehmen Äußeren, seiner melancholischen Attitüde die Frauen bestrickt und sich von ihnen sein zusehends ausschweifendes Leben finanzieren lässt.
Aber unter der Oberfläche verbleibt die tiefe Unzufriedenheit mit der Welt, mit sich selbst, ein Lebensüberdruss, der sich in diversen – mehr-weniger ernsthaften Selbstmordversuchen äußert. Die Familie verstößt ihn aufgrund seines Lebenswandels, er verfällt dem Alkohol, den Drogen – und immer sind es Frauen, die ihm dieses Leben ermöglichen, sich ihm opfern. Die Vergewaltigung seiner zweiten Ehefrau, die er nicht verhindert im Zustand der Betrunkenheit und aus dem Wunsch, nicht in das äußere Leben involviert zu werden, wird zum Wendepunkt: Er verfällt noch stärker den Drogen, erkrankt an Tuberkulose und wird schließlich in eine Psychiatrie verbracht. Mit 27 Jahren ist sein Haar ergraut, „die meisten halten mich für über Vierzig“. „Alles vergeht“.
Mich hat der Roman nicht überzeugt, er verkommt – je weiter das Leben des Protagonisten fortschreitet – zu einer Selbststilisierung, die nicht wirklich glaubhaft wirkt. Dem kleinen Jungen, auch dem Heranwachsenden nimmt man die Vereinsamung innerhalb der Familie noch ab, diese jugendliche Verzweiflung, die nur aus der Distanz der Erwachsenenwelt ridikül wirkt, für den Betreffenden es aber keineswegs ist. Dann aber scheint Osamu über die starken autobiographischen Züge zu stolpern, er dramatisiert, wird pathetisch und auch unglaubwürdig. Typisch für diese „literarische“ Bearbeitung ist die Szene seiner Einlieferung in die Psychiatrie: Zuvor schwer morphiumabhängig wird er durch die „engelhafte Einfalt“ seiner Frau (die diese Drogensucht nicht als solche erkannt hat) geheilt: „Von diesem Augenblick an war ich wohl schon nicht mehr süchtig“. Dabei müsste es Osamu besser wissen: Im Nachwort wird von seinen diversen Drogenentziehungskuren berichtet, vom unsäglichen Leiden durch diese Torturen. Heilung durch Einfalt ist ein nettes Motiv, es ist aber eine Legende (und hier war ich an die „Legende vom heiligen Trinker“ Roths erinnert, der in dieser Erzählung ähnlich abgehoben sich vernehmen lässt, Roth, der nach dem Aufstehen Stunden auf der Toilette mit Erbrechen und Durchfall verbrachte, bis sich endlich sein Magen so weit beruhigt hatte, dass er die ersten harten Getränke zu sich nehmen konnte. Weshalb die Bekehrung seines Heiligen eben auch nichts anderes ist denn Legende …)
Osamu findet nicht wirklich eine Kompromiss zwischen Bekenntnisbuch und literarischer Aufbereitung: Wobei ich ihm hier möglicherweise Unrecht tue und mit meiner westlichen Sozialisierung, meinem westlichen Literaturverständnis dies beurteile. Aber genau diese meine Herkunft hat mir auch zahlreiche andere, japanische, chinesische Werke verdorben: Das, was in diesen Kulturen vielleicht authentisch ist, will mir nur schwer nachvollziehbar erscheinen, die Probleme in einer ritualisierten, sehr viel stärker durch gesellschaftliche Bindungen geprägten Welt bleiben für mich teilweise unerfahrbar. Wobei allerdings die oben monierten literarischen Stilisierungen immer fragwürdig sind: Gerade realistische Werke (wie das vorliegende) verlieren dadurch an Glaubwürdigkeit.
Dazai Osamu: Gezeichnet. Frankfurt a. M.: Insel 1997.
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