Es ist eine beachtliche Leistung, mit so wenigen Sätzen so viel Unsinn zu verbreiten (und es legt Zeugnis ab von einer unglaublich naiven Geisteshaltung, die in Mythen nicht mehr sieht als phantasievolle Geschichten, die noch nicht einmal logisch konsistent sein müssen). Mythen sind selbstverständlich sehr viel mehr als solche Erzählungen, sie sind Welterklärungsmodelle, sie sind nie völlig beliebig oder kontingent und ihre innere Logik ist von größter Bedeutung (weshalb sich etwa das Christentum über die Jahrtausende immer wieder um Neuinterpretation und innere Konsistenz der heiligen Texte bemühte – bemühen musste, wenn diese Logik gefährdet war). Und noch viel mehr gilt das für die Griechen: Bei den Vorsokratikern sind zahlreiche mythische Versatzstücke erhalten geblieben, auch bei Platon oder Aristoteles ist Wissenschaft bzw. Philosophie immer auch mit Mythologie verbunden. Bei so offenkundigem Nonsens stellt sich weniger die Frage der Widerlegung denn jene nach dem Grund für eine solche Haltung: Leonid Zhmud ist vermutlich in der Sowjetunion groß geworden und dürfte die strenge marxistisch-leninistische Trennung von Wissenschaft und Religion mit der Muttermilch eingesogen haben. Und er braucht diese kruden Ansichten für die später im Buch vertretenen Thesen: Das nämlich der Pythagoreismus keinesfalls eine religiöse Bruderschaft, eine irgendwie esoterische Vereinigung gewesen sei, sondern ein politisch motivierte Zusammenschluss von Personen, der so ganz nebenbei als Begründer der abendländische Wissenschaft gelten darf.
Das ganze Buch ist in einem äußerst unangenehmen Stil geschrieben: Immer gibt es jemanden, dem der Autor am Zeug flicken will, er wirkt in seiner Argumention überheblich und arrogant (eine Zeitlang hat er es besonders auf Walter Burkert abgesehen), seinen gesamten Ausführungen haftet etwas Borniertes an. Für seine apodiktischen Feststellungen zitiert der Autor sich gerne selbst (wenn er etwa – wie oben angeführt – schreibt „Im Unterschied zu Philosophie und Wissenschaft ist der Mythos keine Form der Erkenntnistätigkeit, er ist nicht auf den Erwerb von Wissen gerichtet und ist seiner ganzen Natur nach auch gar nicht in der Lage, Wissen zu vermitteln“, so wird man später mit Formulierungen konfrontiert in der Form „wie bereits in Kapitel I. gezeigt worden ist …“, obwohl dort weder argumentiert noch „gezeigt“, sondern bloß subjektiv festgestellt wurde). Gibt es Belege, die seine Ansicht nicht stützen, sind sie ein Beweis für die Unkenntnis des Betreffenden (weshalb dann die Quelle gar nicht mehr ernst genommen werden kann), während andere, die These stützende Aussage, in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Eigentlich ist das Buch eine permanente Verletzung des wissenschaftlichen Ethos: Ich kann mich an kein (philosophie-)historisches Buch erinnnern, das ähnlich penetrant die eigenen Ansichten durchzusetzen sucht. Typisch die Formulierung in Bezug auf den Einfluss des Mythos: „Die Tatsache, daß Elemente des Mythos fortdauern und in das neue System aufgenommen werden, ist im Grunde unerheblich.“ Da ja dieser Einfluss einfach nicht wegzudiskutieren ist, wird er als „unerheblich“ abgetan. Diese „Argumente“ sind persönliche Ansichten des Autors, sie werden aber dogmatisch für die Richtigkeit seiner Aussagen angeführt: Ähnlich verfährt er etwa mit den Einflüssen der ägyptischen und babylonischen Mathematik, die er schlicht negiert (wenn Übereinstimmungen vorhanden sind, dann liegen sie in der Natur der Sache: Vieles wurde mehrfach erfunden; die Reise des Pythagoras nach Ägypten wird einfach bestritten, die Quellen werden – weil sie nicht ins System passen – als unzuverlässig abqualifiziert) oder mit der Metempsychose, die er Pythagoreismus so gar nicht brauchen kann und deshalb auch mit den schon genannten Methoden zum Märchen erklärt. Oder die Schlussfolgerungen sind gänzlich dubios: Weil eine Erzählung bei Iamblichos zweimal fast wortgleich vorkommt steht für Zhmud fest, dass er sie aus einer früheren Quelle abgeschrieben und nicht selbst verfasst hat (könnte er nicht – viel wahrscheinlicher – von sich selbst abgeschrieben, etwas zum zweiten Mal für passend gehalten haben?).
Diese Art einer bornierten Rechthaberei macht die Lektüre zu einem Spießrutenlauf und lässt den – sicherlich vorhandenen – Informationswert gänzlich in den Hintergrund treten. Dabei geht es eben gar nicht darum, ob nun Zhmud mit seinen Ansichten „richtig“ liegt (richtig ist ein großes Wort in diesem Zusammenhang: Wir können aufgrund der Quellenlage für die Vorsokratiker wohl nur auf mehr oder weniger große Plausibilität verweisen), sondern um den ignoranten Furor, den er an den Tag legt. Alles möglicherweise Interessante verschwindet hinter der dünkelhaften Voreingenommenheit des Autors, die obskuren Ausführungen zum Mythos in der Einleitung sind Teil des Programmes, das darin besteht, der eigenen These mit allen Mitteln zum Erfolg zu verhelfen. Deshalb fiel es mir auch schwer jene Kapitel zu würdigen (etwa das über Akusmatiker und Mathematiker), die ein Interesse wirklich verdient hätten. Zhmud mag ein Kenner des Pythagoreismus sein, ich werde aber mit Sicherheit keines seiner Bücher mehr zur Hand nehmen und kann dies auch niemanden empfehlen.
Leonid Zhmud: Wissenschaft, Philosophie und Religion im frühen Pythagoreismus. Berlin: Akademie Verlag 1997