Timothy Snyder: Bloodlands

Unter „Bloodlands“ versteht Snyder das Gebiet der Ukraine, Weißrusslands, des Baltikums und Polens (in den Grenzen vor 1939). Dieser Teil Osteuropas hat wie kein anderer unter den Gräueln des Zweiten Weltkrieges gelitten und er war Schauplatz unzähliger Massenmorde, die – trotz vorsichtiger Schätzung von seiten des Autors – etwa 14 Millionen Menschen das Leben kosteten. Es geht hier um Massenmorde: Nicht um die zivilen Opfer des Krieges, nicht um die unzähligen Soldaten, die gefallen sind und auch nicht um jene Bevölkerungsteile, die durch die kriegsbedingte Katastrophen (Hunger, Krankheit) ihre Leben verloren.

14 Millionen Tote in einem Zeitraum von 12 Jahren (1933 – 1945), beginnend mit der ganz bewusst ausgelösten Hungerkatastrophe in der Ukraine, die rund 3,3 Millionen Opfer forderte und durch die wahnwitzige Kollektivierungspolitik Stalins ausgelöst wurde. Wohlgemerkt – das ökomische Desaster war der Auslöser, nicht aber die Ursache: Nachdem die Getreideproduktion weit hinter dem geforderten Plansoll zurückblieb, Stalin aber nicht auf die Ausfuhreinnahmen verzichten wollte (die Industrialisierung hatte absolute Priorität), wurden die ukrainischen Bauern gezwungen, trotz ihrer prekären Lage alle ihre Vorräte abzuliefern. Wer – im Wunsch, seine Familie ernähren zu können bzw. Saatgut für das nächste Jahr zu behalten – diesen Forderungen nicht nachkam, wurde als Klassenfeind erschossen, der vorsichtige Hinweis ukrainischer KP-Mitglieder, dass unzählige Menschen vor dem Hungertod stünden, wurde zynisch zurückgewiesen: Diese verhungernden Kinder seien Instrumente einer vom Ausland gesteuerten Politik, überhaupt seien diese Hungertoten bloß Feinde der Revolution, die durch dieses ihr Sterben den großen kommunistischen Plan zu stören beabsichtigten. Von dem ungeheuren Leiden dieser Bevölkerung nahm die Welt damals kaum Notiz, westliche Kommunisten (wie etwa Arthur Koestler, der 1933 die Sowjetunion besuchte) demonstrierten (wie später beim Hitler-Stalin-Pakt, aber auch noch häufig im Kalten Krieg) ihre Ignoranz und Dummheit: Sie hielten die Toten für ein notwendiges Übel auf dem Weg in die klassenlose Gesellschaft.

Daran anschließend folgte der „Große Terror“ 1937/38, der rund 700 000 Menschenleben kostete: Zum einen waren es häufig wieder „klassenfeindliche“ Bauern, die diesem Furor zum Opfer fielen, zum anderen aber wurden auch gezielt bestimmte Nationalitäten (etwa in der Sowjetunion lebende Polen) verfolgt. Mehr als die Hälfte der Opfer kamen wieder aus den „Bloodlands“ und abermals blieben Reaktionen des Westens weitgehend aus: Die Sowjetunion als Zentrum des Antifaschismus war gleichzeitig der Hort des Guten, wer gegen die Sowjetunion war, war also auch ein Förderer des immer stärker werdenden Faschismus. Diese kurzsichtige und unsinnige Logik hatte zur Folge, dass vor dem Zweiten Weltkrieg trotz Millionen Opfer im Reich des Kommunismus (im Vergleich dazu waren in Deutschland bis zu diesem Zeitpunkt etwa 7000 Menschen durch den politischen Terror zu Tode gekommen) dieses für zahlreiche Intellektuelle noch immer eine hoffnungsvolle Zukunft repräsentierte.

Nach dem Hitler-Stalin-Pakt und dem Einmarsch der Deutschen und der Sowjetunion in Polen (in der Sowjetunion – wie im übrigen auch im derzeitigen Russland – wird (und wurde) der eigentliche Kriegsbeginn auf den Juni 1941 verlegt, um die Besetzung Polens als auch des Baltikums durch die kommunistische Armee ignorieren zu können) kam es – wieder auf beiden Seiten – zur Hinrichtung zahlreicher polnischer Führungskader (wie überhaupt die Polen unter der mehrfachen Eroberung mit Abstand am meisten gelitten haben): Man wollte die gesamte Intelligenzia eliminieren, um das Volk führungslos zu machen. Diese Beschreibung der ersten Kriegshandlungen zeigt auch, wie wenig Deutschland an einem „normalen“ Krieg interessiert war: Von Beginn an kam es zu Massenhinrichtungen unter der Zivilbevölkerung aber dauch von gefangen genommen Soldaten, kriegsrechtliche Bestimmungen wurden bedingt durch die Überzeugung der rassischen Minderwertigkeit der Slawen von Beginn an ignoriert. Das Absprechen des „Menschseins“ ist die ideale Voraussetzung, um spezifisch menschliche Bedenken hintan zu halten.

Nach dem Angriff auf die Sowjetunion (im Hintergrund eines planmäßig verlaufenden Blitzkrieges stand die Idee, im ersten Winter etwa 30 Millionen Menschen dem Hungertod auszuliefern), fanden sich auch die neu eroberten Gebiete dem Terror ausgesetzt. Das Ausbleiben des schnellen militärischen Erfolges besiegelte endgültig das Schicksal der Juden: War zuvor immer noch von Umsiedlungsplänen die Rede gewesen, wird ab August 1941 die physische Vernichtung befohlen. Es kommt zu unzähligen Massakern durch die „Einsatzgruppen“, die sich in ihrer Effektivität gegenseitig zu übertreffen suchten (rund 1 Million Juden fällt Erschießungen zum Opfer, danach wird die Vernichtung „industrialisiert“). Auch diese Vernichtung fand in den „Bloodlands“ statt, wie auch das Verhungernlassen von rund 60 % der russischen Kriegsgefangenen (etwa 3 Millionen Soldaten). Dazu kommt der Blutzoll der polnischen Zivilbevölkerung (etwa 4,3 Millionen), deren Gebiete bis zu dreimal erobert wurden. Der Warschauer Aufstand wurde zu einem weiteren Beispiel eines mörderischen Zynismus: Stalins Armee wartete so lange, bis die Polen völlig aufgerieben waren und die Stadt zerstört war, er hatte kein Interesse an einem Polen, das sich teilweise selbst befreit.

Manchmal bedurfte es einer Lesepause ob all der Ungeheuerlichkeiten, dann wieder ließ die Aufmerksamkeit nach und man nahm über viele Seiten einfach nur diese enormen Zahlen zur Kenntnis, Zahlen, die fast vergessen ließen, dass sich hinter ihnen einzelne Menschen, Individuen verbergen. Genau darauf weist Snyder im letzten Kapitel mehrfach hin: Auf die Wichtigkeit, von den bloßen Zahlen zu abstrahieren, die Opferzahlen ganz bewusst mit eins zu multiplizieren, ihnen auf diese Weise Leben einzuhauchen (was ihm auch dadurch gelingt, dass er einzelne Schicksale herausgreift und eingehender schildert). Und er weist ausführlich auf die Problematik einer Art von „konkurrierender Märtyrologie“ hin: Alle Nationen versuchen ihre Opferzahlen hochzurechnen, versuchen aus ihren Toten Kapital zu schlagen und fördern damit jenen Nationalismus (Rassismus oder Klassenkampf), der zuerst zur Entmenschlichung des anderen und dann zu dessen Tod geführt hat.

Und er zeigt ein andere, weitere Gefahr auf: Wir pflegen uns in der Geschichte stets mit den Opfern zu identifizieren, wir sehen uns auf der Seite der Leidenden, Entrechteten, während die Chance, Täter zu werden, wesentlich größer ist. Unsere Verachtung gilt den Kollaborateuren, einem deutsch-russischen Kriegsgefangenen, der einem Angebot der Nationalsozialisten nachgibt (und dessen Alternative im Verhungern oder Erschossen-Werden bestand), einem ukrainischen Hilfspolizisten, der sich an Hinrichtungen beteiligt und dessen Tätigkeit die einzige Möglichkeit ist, um seiner Frau und seinen Kindern das Überleben zu sichern. Wichtig in diesem Zusammenhang der Hinweis Snyders, dass ein Deutscher, der sich einer solchen Tätigkeit verweigerte, sich einer weit geringeren Gefahr aussetzte und kaum um sein Leben fürchten musste. Auf der Seite der Benachteiligten ist es – aus historischer Distanz – recht leicht, moralisch zu sein, während die grausamen Alternativen auf Täterseite ausgeblendet werden. Das bedeutet selbstredend nicht, dass es keine Überzeugungstäter gegeben hätte: Gerade dies wird eindrucksvoll vermittelt, die (für mich schwer verständliche) Tatsache, dass man den Rassen- und Klassenwahn nicht bloß als ein moralisch fragwürdiges Mittel zum Zweck betrachtet hat, sondern tatsächlich von seiner Richtigkeit überzeugt war.

Das Buch ist eindrucksvoll grausam, es ist – soweit ich dies beurteilen kann – objektiv und darum bemüht, die Opferzahlen nicht um des Effektes willen höher anzusetzen. Und es ist auch nirgendwo Partei, sondern um eine stets gerechte Darstellung bemüht: Eine Mahnung an alle, die Geschichte (oder all jene Tote, die sich dem nicht mehr verweigern können) für ihre eigenen Zwecke missbrauchen und die den Schluss ausblenden, dass der „Märtyrer-Konkurrenzkampf“ nur immer neue Märtyer erzeugt.


Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. München: Beck 2011.

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