Die syrische Auseinandersetzung hat – wie alle Konfliktherde im Nahen Osten – eine lange Geschichte. Es ist eine Geschichte von Interventionen, eine Geschichte der Neuaufteilung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg, in der vor allem die USA bemüht sind, die vormals englischen und französischen Einflussgebiete unter ihre Kontrolle zu bringen: Beginnend mit dem Sturz des gewählten Präsidenten Mohammad Mossadegh im Iran 1953, den zahlreichen Umsturzversuchen in Syrien und Ägypten durch die CIA und endend in unserem Jahrhundert mit dem Irak-Krieg und der Unterstützung der islamistischen Gegnerschaft von Baschar al-Assad. Denn darauf wird Lüders nicht müde hinzuweisen: Jene viel apostrophierte „gemäßigte“ Opposition ist eine Schimäre des Westens, sie existiert einzig in den Köpfen des US-Außenministeriums und diverser europäischer Staatschefs. Bzw. wird mit Hilfe des Westens in Form der FSA (Freien Syrischen Armee) künstlich erschaffen, um einen Ansprechpartner für Waffenlieferungen zu haben.
So wurden die umfangreichen lybischen Waffenbestände mit amerikanischer Hilfe von Bengasi nach Syrien transferiert, vor allem über den Nato-Partner Türkei, die ebenso auf einen schnellen Sturz des syrischen Regimes gesetzt hatte und der dafür auch jedes Mittel recht war: Die Unterstützung des IS bzw. der Nusra-Front durch die Türkei wurde so offenkundig betrieben, dass sogar türkische Staatsanwälte auf den umfangreichen Waffenschmuggel aufmerksam wurden. Allerdings war Präsident Erdogan an einer solchen Verfolgung wenig gelegen, weshalb diese Anklage im Sande verlief und für die Staatsanwälte mit deren Kündigung verbunden war. Ein weiterer, wichtiger Grund für die Unterstützung des Aufstandes in Syrien (der kaum je Erwähnung findet) ist auch Baschar al-Assads Weigerung, eine Gaspipeline aus den Golfstaaten durch Syrien bauen zu lassen (womit er seinen russischen Verbündeten vor den Kopf stoßen würde, dem an exklusiven Gaslieferungen nach Europa gelegen ist).
Und so hoffte man von seiten des Westens, in Syrien Ähnliches zu vollbringen wie kurz zuvor in Lybien: Wo die Einrichtung einer Flugverbotszone zum großen Missfallen Russlands und Chinas dazu genutzt wurde, um Muammar al-Gaddafi zu stürzen und so nebenbei aus dem Land einen „failed state“ zu machen. Doch die Hoffnung war trügerisch; weder ließ sich Russland noch einmal über den Tisch ziehen noch funktionierten die umfangreich unterstützten Aufständischen im Sinne ihrer Lieferanten. Das Ergebnis ist ein ungeheures Chaos, unter dem – wie in Kriegen üblich – die Zivilisten am meisten zu leiden hatten. 3 Millionen Flüchtlinge befinden sich in der Türkei, innerhalb Syriens sind 5 Millionen auf der Flucht (die – was im Westen unerwähnt bleibt – in die Einflussbereiche der syrischen Regierung geflüchtet sind). Zum ersten Mal aber wird vor allem Europa direkt von diesen kruden Unternehmungen betroffen: Zwar hatte schon Muammar al-Gaddafi stets erwähnt, dass es ohne ihn zu einem afrikanischen Exodus kommen würde (womit er so unrecht nicht hatte), aber die syrische Fluchtbewegung übertraf denn doch alle Erwartungen. Und so hat über verschlungene Wege eine undurchdachte und irrwitzige Einmischung in Syrien den Rechtspopulismus in Europa salonfähig und zu einer Gefahr für die gesamte europäische Union gemacht.
Ein Ende ist nicht in Sicht – und aufgrund der unterschiedlichsten Bündnisse auch mehr als unwahrscheinlich: So werden die Kurden Syriens von den USA unterstützt, während die Türkei (als eigentlicher Partner des Westens) gegen einen eigenständigen kurdischen Bereich in Syrien (Rojava) kämpft und dabei die Islamisten unterstützt. (Deshalb auch jene vornehme Zurückhaltung der Türken beim Kampf um Kobane.) Andererseits ist man von türkischer Seite mit den irakischen Kurden ausgezeichnet vernetzt, bezieht einen nicht unerheblichen Teil des Ölbedarfs aus dieser Region (hier gilt, dass die Kurden untereinander ebenso uneinig sind: Türkische und syrische Kurden sind sehr viel weiter links angesiedelt als die irakischen Kurden, die in ihrem weitgehend eigenständigen Gebiet eine autoritäre Clanherrschaft eingerichtet haben).
Im Unterschied zu dem erwähnten Buch von Karin Leukefeld lässt Lüders aber auch keinen Zweifel an den Absichten Russlands und der Unterdrückung des eigenen Volkes (vor allem der sunnitischen bzw. nicht-alawitischen Bevölkerung) durch Assad. Dass dieses Regime verbrecherisch agiert, Menschenrechte mit Füßen tritt und über die Geheimpolizei die Menschen terrorisiert, steht außer Frage. Doch es wäre naiv anzunehmen, dass durch westliche Waffenhilfe dieses Regime gestürzt werden kann (vor allem, so lange Russland Assad weiterhin unterstützt – und das wird Russland tun) und dass – im Falle des Sturzes – sich dort eine offene, liberale Gesellschaft bilden könnte. In Syrien sind fast 90 % der Bevölkerung als arm zu betrachten, es gibt keine gebildete Mittelschicht, die die Macht übernehmen könnte, sondern nur das von den Alawiten dominierte Militär und einen sehr kleinen Anteil an (sunnitischen) Händlern, denen eher an einem funktionierenden, Sicherheit garantierenden Staat gelegen ist. Die einzige Alternative wäre ein islamistisches Regime, an dem aber nicht einmal den die sunnitischen Rebellen unterstützenden Golfstaaten gelegen ist. Wobei die Heuchelei des Westens (mit dem Gerede von den Werten, die da verteidigt werden sollen) ohnehin offenkundig ist: Ägypten, Saudi-Arabien oder Katar sind nicht minder verbrecherische Staaten, der Unterschied besteht einzig darin, dass ihre Schutzmacht die USA sind und nicht Russland. Von einem Kampf um demokratische Werte oder gar Menschenrechte in diesem Zusammenhang zu reden wäre also höchst unverfroren.
Der Westen (und allen voran die USA) sind also bestenfalls von geopolitischen und ökonomischen Interessen getrieben. Angesichts der „vorgetragenen Faktenlage“, so Lüders, „kann kaum allen Ernstes behauptet werden, dass westliche Politik – im Gegensatz zu russischer und chinesischer – für Werte stehe“. Und um welche Werte geht es überhaupt? Rechtfertigen die Menschenrechte jede militärische Intervention – oder befinden wir uns wieder in kolonialen Zeiten, als die „Zivilisation“ als solche den Grund für die Unterdrückung und Ausbeutung indigener Völker lieferte? Und muss man nicht die Konsequenzen solcher Interventionen penibel abschätzen, waren die Folgen der Einmischung in Syrien nicht bloß unzählige Tote? Wir (im Westen) sind keineswegs die „Guten“ – und selbst wenn wir es wären, würden militärische Interventionen aufgrund ihrer Auswirkung höchst problematisch sein. Der erste Schritt zu mehr Humanität müsste also die wirklichen Zwecke unseres eigenen Tuns hinterfragen (und angesichts der wirtschaftlichen Ausbeutung zahlreicher Entwicklungsländer wäre das schon ein großes, ja ein „weites Feld“). Erst wenn wir uns unserer eigenen Heuchelei stellen, die vorgebliche, sich auf „Werte“ berufende Uneigennützigkeit hinterfragen, kann über die Legitimität von gewaltsamen Eingriffen sinnvoll diskutiert werden. Aber das scheint noch ein sehr langer Weg.
Michael Lüders: Die den Sturm ernten. München: Beck 2017.