Für den Heranwachsenden ist es ein Abenteuer, aber auch eine Art Selbstverständlichkeit: Man nimmt den Krieg zur Kenntnis wie andere unangenehme Dinge auch, man muss doch auch zur Schule oder sich die Ohren waschen. Erst mit zunehmenden Alter werden von Walter auch eigene Anstrengungen eingefordert und – noch viel mehr – eine verquere Disziplin, die in die Privatsphäre übergreift. So schildert er seinen Kampf um die langen Haare (20 Jahre bevor dies zu einem sehr viel umfangreicheren Kampf ausartete), immer ein Zeichen von Rebellion und Selbstbestimmung, er beschreibt das Mitläufertum, die kleinen Feigheiten des Alltags. Die Angst des Großvaters in Hamburg davor, dass sein Garten Schaden nehmen könnte, die Obstbäume – und am Kriegsende muss er dann die völlige Vernichtung seines Eigentums zur Kenntnis nehmen. Doch der Mensch bleibt sich gleich in den großen und kleinen Verlusten, erlebt Weltbewegendes ähnlich wie Alltagsbegebenheiten.
Gegen Kriegsende wird der kleine Kempowski als Kurier eingesetzt, fährt durch zerstörte Landschaften, Städte – aber bei aller Tragik des Erlebten und Gesehenen bleibt der jugendliche Blick bestehen, er erlebt zwar auch Erschöpfung und Verzweiflung, aber alles wird bald wieder zum Abenteuer, zur Möglichkeit, Großes zu erleben. Nirgendwo ein moralisierender Zeigefinger, sondern einzig die Sichtweise des Betroffenen, der sich in eine weltgeschichtliche Situation gestellt sieht, die ihm in seiner Tragweite völlig unzugänglich bleibt. Und keine Stilisierung des Geschehens, sondern ein weitgehend nüchterner Tatsachenbericht, der gerade durch den – manchmal naiven – Blickwinkel des jugendlichen Protagonisten nachvollziehbar, verstehbar wird.
Wie auch in den anderen Bänden gelingt es dem Autor auf einfühlsame Weise, ein Bild dieser Zeit zu erzeugen, ein Bild, das weitgehend unbeeinflusst ist von allen späteren Erkenntnissen. Bemerkenswert bleibt vor allem anderen, dass es – trotz vieler betroffen machender Ereignisse – ein Bild ganz ohne Tragik bleibt, es ist die Schilderung der Lebenswelt eines 12- oder 15jährigen, der in eben der Zeit groß wurde. Der mit Tod und furchtbarer Zerstörung konfrontiert wurde, für den aber das schrecklichste Ereignis jenes war, als er dazu gezwungen wurde, sich die Haare schneiden zu lassen. Das ist in diesem Alter keineswegs ignorant, sondern überaus verständlich – und genau deshalb ist diese Kriegsschilderung auch so beeindruckend.
Walter Kempowski: Tadellöser und Wolff. Hamburg: Knaus 1981.