Yalis Frage
Leitmotivisch taucht in diesem Buch immer wieder Yali’s Question auf. Yali wird im Prologue eingeführt: ein charismatischer Lokalpolitiker, den Jared Diamond 1972 auf Papua-Neuguinea kennen gelernt hat, als er dort die Evolution der Vögel studierte. Yali ist intelligent und neugierig (Diamond hält den durchschnittlichen Einwohner von Papua-Neuguinea für mindestens so intelligent, wenn nicht intelligenter als den durchschnittlichen US-Amerikaner oder Europäer), und er fragt Diamond:
Why is it that you white people developed so much cargo and brought it to New Guinea, but we black people had little cargo of our own? [Wie kommt es, dass die Weissen Dinge entwickelt haben, wie eine zentralisierte Regierung, Stahläxte, Zündhölzer, Arzneimittel, Soft Drinks oder Regenschirme, und diese Dinge nach Neu-Guinea brachten, während die Schwarzen so wenig davon selber kannten oder entwickelten?]
Der Beantwortung dieser Frage ist das ganze Buch gewidmet.
Guns, Germs, and Steel
Die unmittelbare Antwort auf Yalis Frage lautet: Die Weissen hatten Gewehre, Mikroben und Stahl auf ihrer Seite. Doch für Diamond ist das nur eine vorläufige Antwort, denn nun muss weiterführend gefragt werden: Wie kommt es, dass die Europäer diese Dinge entwickelten und nicht etwa die Azteken? Wie kommt es, dass Cortez mit etwas über 600 Leuten im Jahre 1519 das Azteken-Reich erobern konnte und nicht umgekehrt die Azteken Spanien eroberten? Ja, die Spanier hatten (primitive) Gewehre, sie hatten generell die besseren Waffen (weil aus Stahl und nicht aus Holz), sie hatten die besseren Rüstungen (weil ebenfalls aus Stahl). Aber ihre Mikroben konnten sie noch nicht verbreitet haben, und ihre paar Pferde machten den Unterschied auch nicht aus. (Dass die Azteken Angst vor den Pferden gehabt hätten, oder gar die berittenen Spanier für ihre Götter gehalten hätten, verweist Diamond ins Reich der Fabel.) Aber die Spanier waren besser organisiert – und aus Jahrhunderte langer Erfahrung in der Politik besser bewandert, was ihnen ermöglichte, die Spannungen zwischen Azteken und von den Azteken unterworfenen Völkern zu erkennen und auszunutzen, ebenso wie die zwischen den Erben des aztekischen Herrscher Moctezuma entstandenen Differenzen.
Die Schrift
Die Frage verschiebt sich also rückwärts: Wie kam es, dass gerade in Europa (und in China, aber das chinesische Reich machte eine Sonderentwicklung durch, indem es von seinen Machthabern bewusst vom Verkehr mit der übrigen Welt abgeschnitten wurde) dieser Staat in dieser Form entstehen konnte? Rousseaus ‚Contrat social‘, die bewusste Übereinkunft vernünftiger, aber bis anhin einzelgängerischer Menschen, einen Staat zur gegenseitigen Unterstützung und Hilfe zu schaffen, verweist Diamond ebenfalls ins Reich der Fabel. Es gibt in der Realität verschiedene soziale Organisationsformen, von der lose und egalitär geformten Gruppe von Jägern und Sammlern (meist nicht viel mehr als 20 Mitglieder, alle miteinander verwandt) bis hin zum einem Staat mit zentralisierter Regierung, der Millionen, ja Milliarden von Leuten zählen kann. Die Schrift als Möglichkeit, ein derart grosses Gebilde organisieren zu können, nimmt in dieser Entwicklung eine wichtige Rolle ein. Aber auch da stellt sich die Frage: Wie kommt es, dass die Schrift in Europa und in Asien entwickelt wurde – und das wohl auch noch ein paar Mal unabhängig voneinander? Wie kommt es, dass die doch auch schon grossen Staaten Mittel- und Südamerikas, die Reiche der Azteken oder der Maya keine Schrift kannten? (Und deshalb auch keine Landkarten, ein unterschätztes Hilfsmittel bei der Eroberung ihrer Reiche.)
Der fruchtbare Halbmond
Das Ganze köchelt zusammen auf die Frage: Warum wurden in Europa und in Asien die Menschen früher oder auch nur effizienter zu sesshaften Ackerbauern und Viehzüchtern, als in allen andern Kontinenten? Denn erst Ackerbau und Viehzucht erlaubten es, viele Leute an einem Ort zu halten. Und hier nun greift die Biologie (die Evolutionsbiologie) ein. Es gibt, gemäss Diamond, weltweit nur eine limitierte Anzahl an Gewächsen, die sich für den Ackerbau eigneten. (Sie mussten u.a. jährlich neue Frucht tragen; diese Früchte wiederum mussten einen hohen Gehalt an Proteinen aufweisen etc.) Ähnlich steht es mit den mittelgrossen Säugern, die sich zur Viehhaltung eigneten. Und von beidem gab es in jenem Gebiet zwischen Mittelmeer und Persischem Golf die grösste Auswahl, das man den ‚fruchtbaren Halbmond‘ nennt. Praktisch alles, was wir heutigen Europäer an Früchten und Gemüse essen, was wir an Vieh züchten und essen, wurde Tausende von Jahren vor unserer Zeitrechnung in jener Gegend zuerst nutzbar gemacht.
Erst die Möglichkeit, Leute unterstützen zu können, die nicht direkt in den Erwerb von Nahrung involviert waren, öffnete den Pfad zu einem Staatswesen: Verwaltungsbeamte, Herrscher, Berufssoldaten – und Erfinder.
Anna Karenina
Viel und besseres Essen bedeutet, dass mehr Menschen pro Quadratkilometer zusammen leben konnten; bedeutete, dass diese Menschen sich besser organisieren mussten, wenn sie einander nicht täglich tot schlagen wollten, bedeutete, dass mehr Erfinder und Entwickler entstanden, die die Gesellschaft immer weiter entwickelten. Und das Zusammenleben mit dem Vieh bedeutete, dass der Mensch deren Krankheiten übernahm und mit der Zeit genetisch gegen sie immunisiert wurde – eine Immunisierung, die den Völkern Amerikas fehlte, da dort – ausser dem Lama, das nur regional zur Verfügung stand und sich nur begrenzt kultivieren liess (es zieht bis heute keine Wagen oder Pflüge) – kein Vieh in dieser Grösse zur Verfügung stand. Denn nicht jedes Tier in geeigneter Grösse war auch sonst zur Kultivierung geeignet. Diamond zitiert den ersten Satz aus Tolstois Anna Karenina: Alle glücklichen Ehen gleichen einander, jede unglückliche Ehe ist auf ihre eigene Weise unglücklich. und wendet das darauf an, dass sehr viele verschiedene Faktoren übereinstimmen müssen, um eine ‚Zusammenarbeit‘ zwischen Mensch und Tier zu ermöglichen.
Der fruchtbare Halbmond und die West-Ost-Ausrichtung Eurasiens
Kein Unterschied der Rasse also, auch die Tatsache, dass es in Europa kälter war als z.B. in Afrika, und diese Kälte den menschlichen Erfindungsgeist aufgestachelt hätte, kann nicht ins Feld geführt werden. (Eine der wichtigsten menschlichen Erfindungen, das Rad, wurde aus Afrika importiert – und unabhängig davon in Mittelamerika nochmals erfunden. Als Spielzeug, da man keine Zugtiere hatten, die grosse Wagen hätten ziehen können.) Es ist der biologische Zufall, dass im ‚fruchtbaren Halbmond‘, der Gegend zwischen Mittelmeer und Persischem Golf, zur richtigen Zeit die meisten und einige der besten Pflanzen und Tiere wild vorkamen, die sich zur Domestizierung eigneten. Dazu kommt der geografische Zufall, dass diese domestizierten Formen in Eurasien rasch verbreitet werden konnten, weil sich dieser Kontinent auf der Ost-West-Achse hinzieht, also über weite Teile dasselbe Klima aufweist, womit auch dieselben (Nutz-)Pflanzen und (Nutz-)Tiere gedeihen konnten, man vom Nachbarn dessen Errungenschaften ausleihen konnte. Während in Afrika oder den beiden Amerikas mit ihrer Nord-Süd-Ausrichtung verschiedene Klimazonen dem im Wege standen, von unfruchtbaren Wüsten nicht zu reden.
Die technische Überlegenheit der Weissen also ein Resultat evolutionsbiologischer Geschehnisse, was durch archäologische und linguistische Forschungen nachgewiesen werden kann. In einem Nachwort von 2017 weist Diamond darauf hin, dass ähnlich geografische Zufälle, die der damaligen Entwicklung zu Grunde liegen, bis heute eine Rolle in der Ökonomie eines Staates spielen: Sobald ein Staat direkten oder indirekten Wasserweg-Zugang ans Meer hat, ist sein Bruttosozialprodukt um ein Vielfaches höher als das eines Staates, der zwar Ressourcen hätte, die aber nur auf dem Landweg tauschen / verkaufen kann.
(Das Buch wurde bereits von scheichsbeutel hier besprochen. Meine Besprechung soll keine Korrektur sein – ich stimme mit scheichsbeutel in seiner Einschätzung der Wichtigkeit und Qualität von Diamonds Buch überein – sondern einige zusätzliche Informationen liefern. Auf jeden Fall eine empfehlenswerte Lektüre.)