Sarah Bakewell: Wie soll ich leben?

Zwanzigmal richtet Bakewell die Frage an Montaigne, wie man denn leben solle – und wird in den Essais fündig, um ebensoviele Antworten geben zu können. Jede dieser Antworten wird zu Abschweifungen benutzt, zu weitergehenden Betrachtungen, und so entsteht daraus eine Biographie Montaignes, es wird – soweit möglich – seine Philosophie deduziert und auch eine Rezeptionsgeschichte abgeleitet.

Das ist wunderbar zu lesen, weil gut geschrieben, oftmals klug beobachtet und immer sehr darauf bedacht, den Menschen Montaigne hinter den umfangreichen Essais sichtbar werden zu lassen. Bakewell beherrscht ihr Metier und sie kann unzweifelhaft mit Sprache umgehen, sie bleibt weitgehend im Hintergrund und dient in unaufdringlicher Weise ihrem Sujet. Trotzdem halte ich die Grundidee des Buches für verfehlt: Die Frage nach dem “Sinn des Lebens” an wen auch immer zu richten führt zwangsläufig zu Banalitäten, zu Allaussagen, die eine beliebige Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen können. Jede dieser Antworten kann man bejahen und jede ebenso verneinen – wie es denn zu gehen pflegt mit Aussagen wie “Stelle alles in Frage”, “Lebe den Augenblick” oder “Habe keine Angst vor dem Tod!”. Das sind Kalenderweisheiten, die in jeder Philosophie stecken, wenn sie aphoristisch verkürzt wird und sie bedürfen einer eingehenden Analyse, wenn sie tatsächlich mit Gehalt gefüllt werden wollen.

Zumeist (und glücklicherweise) werden sie einer differenzierteren Betrachtung unterzogen, nicht immer entgeht aber die Autorin dabei der Banalität. So wenn sie den Skeptizismus Montaignes in einen Relativismus münden lässt, der dann bloß auf Meinungsenthaltung hinausläuft und nur oberflächlich besehen eine stringente Haltung darstellt. Denn schon bei einfachen ethisch-moralischen Fragestellungen lässt sich die relativistische Haltung nicht mehr aufrecht erhalten, sie wird lächerlich und unlebbar wie etwa auch der Solipsismus. Hier meint man als Leser zu spüren, dass philosophische Genauigkeit nicht die Sache der Autorin ist, dass sie sich selbst im Essayistischen, im Erzählenden und Beschreibenden sehr viel eher zuhause fühlt.

Trotzdem ist das Buch gelungen: Denn die Beschreibungen lassen zwischen den Zeilen einen greifbaren Montaigne entstehen, eine ausnehmend moderne Figur, die Bakewell im Vorwort zu Recht als ersten Blogger der Geschichte bezeichnet. Hier ist jemand, der sich selbst zum Thema macht, seine Freuden und Leiden, seine Unsicherheiten, seinen Widerwillen gegenüber endgültigen und Gewissheit heischenden Antworten – und dies in einer Zeit, in der gerade wegen vermeintlicher (Glaubens-)Gewissheiten unzählige Kriege geführt und im Namen der Mitmenschlichkeit abertausende Menschen hingeschlachtet wurden: Wobei der Mörder noch für sich in Anspruch nahm, dem Ermordeten etwas Gutes zu tun, ihm zur ewigen Seligkeit zu verhelfen. Montaigne, wenn auch vorgeblich rechtgläubig katholisch, wusste um die Dummheit dieser Gewissheitsapostel, er stand zwischen allen Fronten und konnte für diese seine Einstellung den gesunden Menschenverstand ins Treffen führen. Einen Menschenverstand, der in solchen Zeiten nicht nur selten zu sein pflegt, sondern dessen Inanspruchnahme auch eine recht gefährliche Angelegenheit sein konnte. (So wurde er als “politique”, jemand, der zwischen Katholiken und Hugenotten zu vermitteln suchte, mehrfach auch körperlich angegriffen und von beiden Seiten misstrauisch beäugt.)

Montaigne war kein Philosoph, sondern Essayist. Und so gibt es auch kein stringentes philosophisches System, das ihm zugeschrieben werden könnte. Als ein Meister der Digression und Unentschiedenheit war es so auch sein Schicksal, nach seinem Tode für die unterschiedlichsten Parteien als ihr Vertreter angeführt zu werden, er wurde zum aufrichtigen Gläubigen ebenso erklärt wie auf den Index gesetzt. Vor allem aber war Montaigne Mensch – und da er dieses Menschsein in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellte, überrascht es nicht, dass fast jeder in den Essais fündig wird und sich in ihm wiederfindet. Dieses Proteushafte in seinen Aussagen herauszuarbeiten gelingt Bakewell ganz ausgezeichnet, ebenso aber ist das Buch eine gelungene biographische Darstellung. Eigentlich jedem zu empfehlen, der ein eingängiges Werk zu Montaigne sucht.


Sarah Bakewell: Wie soll ich leben? Oder Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten. München: Beck 2013.

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