herausgegeben von Christian Bermes und Ulrich Dierse. Hamburg: Felix Meiner, 2010. (= Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 6)
Wie schon1) bei Sonderheft 11, Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts, stellen sich auch bei vorliegendem Sonderheft 6 dieselben Fragen:
Was sind ‚Schlüsselbegriffe‘? Was ist ‚Philosophie‘? Was ist das ’20. Jahrhundert‘?
Wie schon in Sonderheft 11 wird der Begriff ‚Schlüsselbegriff‘ gar nicht erläutert, ebenso wenig die getroffene Auswahl. Wie schon in Sonderheft 11 wird ein sehr weiter Begriff von ‚Philosophie‘ zur Anwendung gebracht, wenn auch ein nicht ganz so weiter wie in Sonderheft 11 (dazu siehe weiter unten). Und wie schon in Sonderheft 11 ist der Begriff eines ’20. Jahrhunderts‘ zwar in der Einleitung der Herausgeber definiert, die Beiträger (auch die Herausgeber selber!) aber halten sich kaum daran.
Die Fragen zu den Begriffen ‚Schlüsselbegriff‘ und ‚Philosophie‘ sind dieselben, wie im Beitrag zu Sonderheft 11; wir werden sie deshalb hier nicht noch einmal wiederholen. Die Eingrenzung des 20. Jahrhunderts schliesst sich insofern nahtlos an die des 19. an, als für die Herausgeber das 20. Jahrhundert mit dem Ersten Weltkrieg einsetzt. Dessen Ende sehen sie 1989 im Ende des Ost-West-Konflikts. Die Einleitung wurde wohl ziemlich genau 20 Jahre nach dem Mauerfall geschrieben. Heute, weitere 8 Jahre später, müssen wir leider sagen, dass der Ost-West-Konflikt zwar eine etwas andere Form angenommen hat, aber immer noch weiter besteht – das ist das Risiko einer historischen Einschätzung, die zu früh erfolgt.
Die Beiträger halten sich kaum an den vorgegebenen Zeitrahmen, haben wir gesagt. Tatsächlich werden viele Begriffe bis in die Aufklärung (Kant!) zurückgeführt, nicht wenige sogar in die Antike. (Nettes Aperçu am Rande: Der Begriff ‚Paradigma‘, durch Thomas S. Kuhns wissenschaftstheoretischen Begriff des ‚Paradigmenwechsels‘ im 20. Jahrhundert tatsächlich zu weltweiter Prominenz in der Philosophie gekommen, wird im von Kuhn verwendeten Sinn offenbar zum ersten Mal bei – Georg Christoph Lichtenberg gefunden.) Viele Beiträger verwenden das Wort heute und meinen damit tatsächlich ihr Hier und Heute, nämlich das 21. Jahrhundert. Viele Namen von Philosophen und philosophischen Strömungen werden wir, nach den Schlüsselbegriffen des 19. Jahrhunderts, hier im 20. Jahrhundert noch einmal finden; gerade die Philosophen des Neukantianismus stellen gleichzeitig einen Abschluss des 19. Jahrhunderts dar (im Wiederaufnehmen der idealistischen Philosophie), wie ein Neueinsetzen des Philosophierens im 20. Jahrhundert (in der starken Betonung der (Natur-)Wissenschaften für die Philosophie).
Man kann sich immer – und ebenso berechtigt wie nicht – über die jeweilige Auswahl an Stichwörtern aufhalten. Einige der in Sonderheft 6 enthaltenen Begriffe sind seinerzeit gänzlich an mir vorbei gelaufen – was nichts heissen will. ‚Filterblasen‘ gab es schon vor Web 2.0 und auf allen Gebieten. Eines aber ist mir aufgefallen:
Wenn nun ein Alien nur (oder zumindest als erstes) die Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu lesen bekäme: Er würde nie auf den Gedanken kommen, dass dieses 20. Jahrhundert zwei der schrecklichsten Kriege der Menschheitsgeschichte aufzuweisen hat – von den in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zwar regional begrenzten, aber vor Ort mindestens so schrecklich wütenden Stellvertreter-Kriegen auf dem ganzen Globus nicht zu reden. Unser Alien würde nie auf den Gedanken kommen, dass im 20. Jahrhundert zwei der menschenverachtendsten Ideologien überhaupt Denken und Tun ganzer Staaten lenkten. Weder ‚Kommunismus‘ noch gar ‚Stalinismus‘, weder ‚Faschismus‘ noch gar ‚Nationalsozialismus‘ sind Stichwörter. Und auch in den Texten versteckt finden wir wenig Hinweise darauf, dass sich die Philosophie je damit auseinandergesetzt hätte. Betrifft das die Realität der Schulphilosophie? – Tatsächlich könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass in Sonderheft 6 ‚Philosophie‘ stärker auf die mit diesem Label versehene Schul-Philosophie beschränkt wird, wie in Sonderheft 11. Denn es stellt sich wirklich die Frage: War die Philosophie des 20. Jahrhunderts eine Philosophie im Elfenbeinturm? Hatten die Philosophen jener Zeit nichts zu sagen zum Faschismus oder zum Stalinismus? Und die Frage muss – zumindest partiell – bejaht werden. Dass in von diesen Ideologien unterdrückten Ländern keiner etwas zu äussern wagt, verstehe ich. Aber ausserhalb oder auch nur in nachträglicher Aufarbeitung? Nun, die Schulphilosophie verschweigt bis heute gern und schamhaft (wie es auch vorliegendes Sonderheft 6 tut), dass z.B. ein Heidegger den Nationalsozialismus mit voller Inbrunst ans Herz drückte, mehr als nur ein Mitläufer war, sondern einer, der Philosophie in nationalsozialistischem Sinn und Geist ausgeübt sehen wollte. (Und einer, der offiziell rehabilitiert wurde, obwohl er seine nationalsozialistischen Äusserungen nie widerrufen hat.) Ebenso wird auf der andern Seite Sartres blinde Ergebenheit dem Kommunismus-Stalinismus seiner Zeit gegenüber klein geredet, wo überhaupt erwähnt. In vielerlei Hinsicht ist und war also die Philosophie tatsächlich blind gegenüber der eigenen Zeit. Aber zumindest für die ungefähr 25 Jahre, die auf 1968 folgten, kann ich das nur bedingt unterschreiben. Nicht nur politische Ideolgien flossen ein, auch z.B. ökologisches Denken. Und auch wenn die ganze New-Age-Bewegung, beginnend bei Capra, endend bei jenem seltsamen Gesellen Castañeda, streng schulphilosophisch wirklich wertlos ist: Sie beeinflusste zu ihrer Zeit (zum Beispiel vermittelt durch Hans Peter Duerr) durchaus auch die Universitäten. Davon findet man nichts in diesem Sonderheft.
Ich will die einzelnen Beiträge nicht Stück für Stück besprechen. Die ungefähren Inhalte mag man aus den Schlagworten am Ende dieses Aperçus entnehmen. Hier nur eine Liste der Titel (= Schlüsselbegriffe) und deren Autoren:
Der Andere – Peter Welsen
Aufklärung – Werner Schneiders
Bedeutung und Sinn – Christoph Demmerling
Bild – Klaus Sachs-Hombach
Dialog – Martin F. Meyer
Existenz, Sein – Rainer Thurher
Gemeinschaft und Gesellschaft – Alois Hahn / Matthias Hoffmann
Gerechtigkeit – Ulrich Steinvorth
Identität – Anton Hügli
Krise – Ernst Wolfgang Orth
Kultur – Brigitte Recki
Leben – Ferdinand Fellmann
Leib, Körper – Käte Meyer-Drawe
Macht – Kurt Röttgers
Medium – Dieter Mersch
Mensch, Dasein – Hans-Ulrich Lessing
Metapher – Ralf Konersmann
Paradigma – Paul Heyningen-Huene
Schuld – Eva-Maria Engelen
Selbstbestimmung – Volker Gebhardt
Sprache – Ulrich Dierse
Struktur – Reto Luzius Fetz
Symbol, Zeichen – Barbara Naumann
System – Dirk Becker
Verantwortung – Jacek Filek
Verstehen – Frithjof Rodi
Zukunft und Utopie – Gunter Scholtz
1) „schon“, „früher“, „später“ etc. etc. etc. … Alle diese Adverbien, Adjektive und auch die Präpositionen der Zeit sind in diesem Aperçu oft mit schillernder Bedeutung verwendet. Zwar liegt das 19. Jahrhundert auf der Zeitachse, wie wir sie in unserem Alltagsverständnis verwenden, vor dem 20. Jahrhundert (weshalb ich auch die Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts vor den hier vorgestellten Schlüsselbegriffen der Philosophie des 20. Jahrhunderts gelesen habe), aber die Reihenfolge des Erscheinens der beiden Bände war umgekehrt: Das hier vorgestellte Sonderheft 6 zum 20. Jahrhundert ist, wie schon die Nummerierung nahe legt, vor Sonderheft 11 zum 19. Jahrhundert erschienen – 5 Jahre früher. Je nach Standpunkt werden wir also Sonderheft 6 vor oder nach Sonderheft 11 einordnen; und das kann durchaus in ein und demselben Satz der Fall sein.
So weit unser persönlicher Beitrag zur Diskussion von Sein und Zeit…