Der Roman Die Schattenlinie wie die Erzählung Der gehime Teilhaber1) sind autobiografisch tingiert; beide handeln vom Leben auf See, das Joseph Conrad so gut kannte.
Betrachten wir zuerst den Roman. Nach einer Widmung an den früh (nämlich im Ersten Weltkrieg) verstorbenen Sohn Borys folgen zwei Zeilen aus Baudelaires Les fleurs du mal. In dieser Gedichtsammlung des Franzosen verstecken sich sehr viele nautische Metaphern für das Leben. Mit der Wahl der Fleurs du mal macht Conrad klar, dass er mehr als nur eine autobiografische Erzählung liefern will, sondern – wenn das hochtrabende Wort erlaubt ist – eine Parabel aufs Leben als solches.
Conrad hat folgende Zeilen Baudelaires gewählt:
… D’autres fois calme plat, grand miroir
De mon désespoir!
Calme, plat und désespoir (auf Deutsch in etwa „ruhig“, „flach“ und „Verzweiflung“) – diese Wörter stimmen auf den Roman ein. Dessen Inhalt ist rasch erzählt. Der Ich-Erzähler, ein junger Mann (noch diesseits der Schattenlinie, die den unbeschwerten Jüngling vom gereiften Mann trennt), verlässt ohne ersichtlichen Grund seine letzte Stelle als Erster Offizier. In einem namenlosen Hafen in Südostasien gestrandet, will er eigentlich etwas herumlungern und sich überlegen, ob er überhaupt weiterhin zur See fahren soll. Doch man überredet ihn, die durch Tod auf der See frei gewordene Stelle eines Kapitäns eines Seglers zu übernehmen. Schon nach kurzer Zeit bricht er in dieser Funktion, die er zum ersten Mal einnimmt, mit der verbliebenen Mannschaft auf, um die geladene Ware in den Bestimmungshafen zu bringen. Unterwegs gerät das Schiff in eine riesige Flaute; dazu erkrankt noch die ganze Mannschaft mit zwei Ausnahmen (eine davon der Kapitän selber) an einer nicht näher genannten Krankheit (wahrscheinlich der Ruhr). Tagelang kommt das Schiff weder vorwärts noch rückwärts; die Mannschaft ist derart geschwächt, dass sie kaum die Segel richtig bedienen kann oder steuern. Das Chinin, das in der Bordapotheke sein sollte, entpuppt sich als wirkungsloses weisses Pulver. Alles, was nun erzählt wird, ist, wie der Kapitän mit sich zusehends steigernder, dumpfer Verzweiflung darauf hofft und wartet, dass das Schiff der Windstille entkommt. Nicht der vom fieberkranken Ersten Offizier evozierte verstorbene Vorgänger ist der Dämon des jungen Kapitäns, sondern das hilflose Warten, zu dem er verurteilt ist. Die Schattenlinie hat er überquert, als das Warten vorbei ist. Der ganze Roman beruht auf Erlebnissen des jungen Conrad, und der Übersetzer kann Figur um Figur identifizieren – inklusive des Kapitäns, der natürlich Conrad selber war. Es spricht aber für die Fähigkeit des Autors Conrad, dass das Ganze nie als Schlüsselroman oder als Bewältigung der eigenen Vergangenheit empfunden wird.
Ebenfalls, aber anders, autobiografisch ist die folgende kurze Erzählung The Secret Sharer. Die deutsche Sprache ist dazu verurteilt, den Doppelsinn des Originals eindeutig machen zu müssen. Die Frage wäre nämlich: Ist der junge Mann, den der Kapitän und Ich-Erzähler (selber ein junger Mann, und wie sein Kollege von der Schattenlinie frisch auf einem Schiff mit bestehender Mannschaft, auf seinem ersten Kommando), ist der junge Mann also, den der Kapitän eines Nachts heimlich an Bord holt und – weil er vom Kapitän seines Schiffs wegen Totschlags eines Crewmitglieds gesucht wird – versteckt, ein „geheimer Teilhaber“ des ‚Erwachsenwerdens‘ des Kapitäns, oder ist es so, dass die beiden ein Geheimnis teilen (nämlich die Anwesenheit des Blinden Passagiers)? Wie im vorangehenden Roman geht es darum, dass sich der Kapitän als solcher erst beweisen, in gewisser Linie also ebenfalls die Schattenlinie überqueren muss. Er tut das, indem er so nahe an einer Insel vorbei fährt, dass einerseits sein junger Doppelgänger (als den er den Fremden mehr und mehr empfindet) ins Wasser springen und zur Insel schwimmen kann, andererseits er selber in einem gewagten Manöver das Schiff wieder auf Kurs bringt und durch dieses Manöver die Achtung seiner Crew gewinnt. Auch hier bezieht Conrad die Spannung und Intensität der Erzählung aus dem Warten, das sich im täglichen Versteckspielen von Kapitän und Blindem Passagier vor der Mannschaft zeigt. Auch hier ist das Warten der Dämon, an dem der junge Kapitän beinahe scheitert, und die seltsame Fremdheit ausdrückt, die ihn von seinen Leuten trennt.
Nach eigenen Aussagen versucht der Übersetzer Daniel Göse, Conrads Sprache so nahe wie möglich zu bleiben und dessen auch nach Jahren des Aufenthalts in England oft gewagten, oft bewusst gewagten!, Satz- und Wortbau auch im Deutschen wiederzugeben. Das ist ihm gelungen, ohne dass wir es deswegen mit einem sprachlichen Monster zu tun hätten. Der sorgfältig gemachten Ausgabe sind ein Nachwort beigefügt, eine editorische Notiz, eine kurze Biografie Conrads, allgemeine Anmerkungen (in denen Göse oft seine eigene Übersetzung mit früheren Übersetzungen vergleicht) und ein spezielles Glossar nautischer Begriffe und Wendungen.
Wer Conrad mag, sollte sich diese zwei Texte in dieser Ausgabe nicht entgehen lassen. – Ich mag Conrad.
Hinter dem Buchtitel Joseph Conrad: Die Schattenlinie. Ein Bekenntnis. Herausgegeben und übersetzt von Daniel Göske. München: Hanser, 2017. verbirgt sich nämlich noch zusätzlich und sozusagen unangekündigt, als Anhang, die ebenfalls von Göske übersetzte Erzählung Der stille Teilhaber.