Biografie? Autobiografie? Oder doch Roman? Es ist nicht ganz so einfach, dieses Werk einer Gattung zuzuweisen, denn Coopers Ned Myers oder Ein Leben vor dem Mast weist Züge von mindestens drei Gattungen auf.
Autobiografie
Ned Myers hat wirklich gelebt, und er hat wirklich erlebt, was in diesem Text erzählt wird. Allerdings konnte Myers zwar ein bisschen lesen, aber kaum schreiben. Ein Leben vor dem Mast beruht auf Notizen, die sich James Fenimore Cooper machte, als er von Myers besucht wurde. Beide hatten zur gleichen Zeit und auf dem gleichen Schiff ihre Karriere zur See begonnen. Aber während Cooper von Anfang an fürs Offizierskorps vorgesehen war und auch Offizier wurde, blieb für Myers – von seltenen Stunts als Erster Offizier abgesehen – nur ein Leben „vor dem Mast“, will sagen: in den Unterkünften der einfachen Matrosen. Cooper nahm seinen Abschied, als er das nicht unbeträchtliche väterliche Erbe antrat, und zog sich nach Cooperstown, seiner Vaterstadt, zurück; Myers verbrachte sein ganzes Leben zur See. Erst, als sie beide über 50 Jahre alt waren, trafen sie sich wieder, als Myers seinen unterdessen berühmten Kumpel in Cooperstown besuchte. Es spricht für Cooper, dass er ihn empfing und auch sehr viel Zeit mit ihm verbrachte. Offenbar erzählte der Matrose dabei sein ganzes Leben. Cooper machte sich Notizen, brachte diese in Form und schrieb so sozusagen Myers Autobiografie. Am Erlös des veröffentlichten Buchs (der übrigens nicht so gross war, wie der von andern Büchern Coopers) war Myers beteiligt. Das also würde für eine Autobiografie sprechen.
Biografie
Zwar ist Das Leben vor dem Mast in der Ich-Form geschrieben, aber eben doch nicht von Myers geschrieben. Auch wenn Cooper den Tonfall eines einfachen Matrosen wiedergibt, kann er doch nicht umhin, einerseits als Herausgeber die eine oder andere Ergänzung als Fussnote beizufügen – vor allem, wenn es darum geht, Myers‘ Erzählungen in einen historischen Kontext einzuordnen –, andererseits schummelt er auch solche Erläuterungen direkt in den Text ein. Hin und wieder findet man nämlich dort solche Einordnungen, meist eingeführt mit habe ich gehört oder hat man mir später erzählt. Auch wird Myers wohl kaum so schön und kohärent sein Leben erzählt haben, von seiner Jugend an (nämlich wie er von seinem Zuhause bei einem Verwandten seiner Mutter abgehauen ist und auf einem Schiff als Schiffsjunge angeheuert hat) bis zum Alter (Myers war, wie gesagt, erst etwas über 50 Jahre alt, als er Cooper seine Geschichte erzählte, aber durch den Alkohol und eine schwere Verletzung vorzeitig gealtert), wie wir es nun vor uns finden. Die editorischen (und wohl auch stilistischen) Eingriffe Coopers würde für eine Biografie sprechen.
Roman
Seltsamerweise wurde aber Ned Myers weder als Biografie noch als Autobiografie rezipiert. Der Text erreichte die grösste Wirkung als Roman. Die grossen Autoren von See-Romanen, Herman Melville und Joseph Conrad, lernten von Ned Myers, wie erzählen vom harten Leben zur See, wie erzählen ohne Larmoyanz. Myers beschönigt in seiner Erzählung nichts. Er schildert die regelmässigen Alkohol-Exzesse, die die Matrosen begingen, wenn sie Landgang hatten und sich von der strengen Pflicht an Bord ‚erholen‘ wollten, ebenso nüchtern (man verzeihe mir das Wortspiel), wie das harte Leben an Bord, wo zu seiner Zeit Matrosen noch jederzeit auf Geheiss eines Offiziers mit dem Tau ausgepeitscht werden durften (was in den meisten Fällen einem Todesurteil gleichkam), wo die ständige Angst herrschte, in englische Dienste gepresst zu werden, oder die Angst vor Piraten etc. Dabei, und das ist das Bemerkenswerte, erzählt Myers ohne zu werten. Selbst als er bei einem Unfall an Deck das Becken bricht, aber sowohl Schiffsarzt wie Kapitän ihn für einen Simulanten halten und zur Arbeit zwingen, klagt er die beiden nicht an, sondern erzählt auch davon als von einer Tatsache seines Lebens. Wenn er jemanden anklagt, dann sich selber, der er sich mit Jähzorn und Alkoholismus seine Karriere-Chancen zur See allesamt verbaut und verbockt hat. Er ist übrigens zur Zeit, als er Cooper sein Leben erzählt, gerade trocken und auch fromm (offenbar, was die ungeheuren Nachwirkungen des alten Predigers beweist, u.a. durch die Lektüre von Bunyan). Cooper half ihm, sein Leben an Land (denn durch den verschleppten Beckenbruch war er nun ein Invalider) zu organisieren. Er verhalf ihm zu einem Job, und Myers heiratete sogar noch. Der alte Matrose starb, wie der deutsche Herausgeber Pechmann schreibt, unter ungeklärten Umständen, ziemlich sicher aber an einem Rückfall in den Alkohol. Das Leben nach dem Zusammentreffen mit Cooper wird allerdings im Text selber mit keinem Wort gestreift.
Im Gegensatz zum larmoyanten und auch in seiner merkwürdigen Einstellung des Weissen gegenüber dem Indianer recht zwiespältigen Letzten Mohikaner ein überaus lesenswerter Text von Cooper.
James Fenimore Cooper: Ned Myers oder Ein Leben vor dem Mast. Aus dem Amerikanischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. Hamburg: mareverlag, 32017