Nichts Geringeres als eine komplette Neueinschätzung Rabeners schwebt dem Herausgeber der beiden Bände „Briefwechsel und Gespräche“, E. Theodor Voss, vor. Eine Neueinschätzung des Autors, des Satirikers, des Beamten und Staatsbürgers, des Liebhabers. Dazu hat er alle möglichen Archive abgesucht, Handschriftensammlungen und Autographenhändler kontaktiert. Herausgekommen ist ein faszinierendes, präzises und persönliches Bild Rabeners, aber auch seiner Zeit, seiner Freunde und Schriftstellerkollegen.
Rabener lebte von 1714-1771. Er war Beamter der kursächsischen Steuerverwaltung, zuletzt in hoher Stellung. Er verbrachte praktisch sein ganzes Leben in Sachsen, zuerst als Steuereintreiber in Leipzig, später wurde er befördert und nach Dresden versetzt. Er galt zu seiner Zeit als der grösste deutsche Satiriker und wurde mit Swift verglichen. „Es werden Tage kommen, wo wir beyde vergessen sind, und in denen wir höchstens darum noch genennet werden, weil wir gelebt haben.“, schrieb Rabener am 19. Januar 1756 an seinen besten Freund, Christian Fürchtegott Gellert. Er wusste nicht, wie schnell er vergessen gehen sollte. Ein Star des 18. Jahrhunderts – schon zu Beginn des 19. praktisch nicht mehr gelesen. Und dass er und mit ihm fast alle seine literarisch tätigen Freunde heute vergessen sind, liegt nur zu einem kleinen Teil daran, dass unmittelbar auf sie eine Generation von Titanen folgte, die deutsche Klassik und die Romantik – eine Generation, die praktisch alles Vorhergehende zertrümmerte. Doch ein Lessing, ein Lichtenberg aus derselben Epoche haben bis heute überlebt; selbst Klopstock (mit dem Rabener eine Zeitlang zusammen wohnte) schaffte es bis 1968. Es liegt vor allem daran, dass Gleim, Uz, Gellert, Liscov, Rabener und wie sie alle hiessen, sich nicht so recht von ihrer Zeit lösen konnten.
Rabener im 21. Jahrhundert wieder Geltung zu verschaffen, ist erklärtes Ziel der vorliegenden Ausgabe (Gottlieb Wilhelm Rabener: Briefe und Gespräche. Band 1: Texte und Abbildungen. Band 2: Kommentar. Hg. von. E. Theodor Voss. Göttingen: Wallstein, 2012.) Voss versucht dies, indem er zum Beispiel auf die sehr komplexe Art und Weise hinweist, in der Rabener seine Satire verfasste. Wie ein guter Billard-Spieler spielt er über die Bande und um die Ecke und mit Effet. Das kann Voss sehr gut nachweisen anhand einer Stelle aus Sancho Panßas Memoiren, wo ein Esel zum König gekrönt wird. So weit, so gut – aber, um ehrlich zu sein, hat sich meine Meinung zum Satiriker Rabener seit November 2011 deswegen nicht geändert: Als Autor handwerklich solide, wenn Rabener auch in keinem Moment an einen Lessing (der ihm mangelnde Aggressivität als Satiriker vorwarf) oder Lichtenberg heranreicht. Swift, mit dem ihn seine Zeitgenossen verglichen, spielt ebenfalls in einer andern Liga. Rabener ist satirisch genug, um Erfolg zu haben, zahm genug, um nicht verfolgt zu werden. Selbst Voss‘ Hinweis darauf, dass Rabener einer Reformbewegung angehörte, die versuchte, der unsinnigen Verschwendung von Staatsgeldern und der persönlichen Bereicherung daran zu steuern, der Hinweis darauf, dass Rabener also keineswegs einfach so jedem König, jeder Regierung brav und ohne Aufmucken diente – selbst das ändert nichts an der Einschätzung des Satirikers Rabener. Die Person Rabeners ist meinethalben mehr oder weniger rehabilitiert.
Das Ziel einer Neueinschätzung des Satirikers Rabener hätte also Voss bei mir verfehlt. Anders ist es mit dem Menschen. Voss gelingt es, den komplizierten Menschen Rabener darzustellen, den Menschen, der ungestüm Freundschaft einfordert, auf regem Briefwechsel insistiert, aber selber Briefe monatelang unbeantwortet lassen kann – ohne äussere Notwendigkeit. Den Bruch mit Gellert, einem lebenslangen Freund, ein paar Jahre vor dessen (und seinem eigenen) Tod. Gellert, der zusehends frömmer wurde – Rabener, dem offenbar (wenn auch uneingestanden) der Glaube an einen guten Gott bei der Bombardierung Dresdens im Siebenjährigen Krieg abhanden gekommen ist. Überhaupt ist diese Bombardierung ein weiterer Punkt, bei dem Voss – hier sogar unabhängig von der Person Rabeners – auf einer Neuinterpretation insistiert. Die deutsche Geschichte, wie immer in solchen Fällen aus der Sicht des Siegers geschrieben und deshalb den Siebenjährigen Krieg als unumgängliches Ereignis auf dem Weg Preussens zur Grossmacht darstellend – Voss will sie hier aus der Sicht des Verlierers geschrieben sehen: Sachsens, Dresdens, seiner Bevölkerung. Neben dem berühmten Brief Rabeners auf seiner Flucht vor der Zerstörung, vielleicht dem einzigen Dokument, das Rabeners Ruf heute noch weiterträgt, bringt Voss andere zeitgenössische Dokumente bei, um zu beweisen, wie sinnlos diese Tat war und welches Leid, welche Not, sie über die Stadt und ihre Bewohner brachte. (Rabener war dann offenbar auch eine der treibenden Kräfte zum Abschluss des Hubertusburger Friedens.)
Last but not least: der Liebhaber Rabener. Während sich der Satiriker Rabener in der Rolle eines alten Hagestolz gefiel, war der Mensch Rabener keineswegs vor Anfechtungen und unglücklichen Liebesgeschichten gefeit. Der Briefwechsel mit „Lorchen“ ist anrührend in der Art und Weise, wie der bereits über 40 Jahre alte Rabener versucht, sich in die Interessenwelt einer mehr als 20 Jahre Jüngeren, offenbar recht Flatterhaften, zu versetzen und ihr zu gefallen. Er tut einem leid.
Die Zerstörung von Dresden im Jahre 1760 durch die Preussen ist der Zentral- und Angelpunkt von Voss‘ Edition. Nicht nur, weil Rabener seine berühmte Schilderung verfasste (ein Brief, der übrigens gegen Rabeners expliziten Willen abgeschrieben und gedruckt wurde – der Tropfen, der das Fass der sowieso schon prekär gewordenen Freundschaft mit Gellert zum Platzen brachte: Jeder beäugte nun den andern misstrauisch ob seiner Indiskretion), Rabener verlor dabei auch sein ganzes privates Archiv: Briefe von und an seine Freunde, aber auch unveröffentlichte Satiren – Satiren, die erst nach seinem Tode hätten veröffentlicht werden sollen. (Als Rabener seinerzeit nach der Veröffentlichung des vierten und letzten Bandes seiner Satiren auf dieses Archiv hinwies, veranlasste dies Lessing zur Bemerkung, dass er sich nun auf Rabeners Tod freue, weil erst dann der echte, wahre Rabener bekannt werden würde, der wahre, aggressive Satiriker.) Somit fehlen die meisten Dokumente zu Rabener aus der Zeit vor 1760. In Anbetracht dessen ist die grosse Menge an Material, das Voss zusammensuchen konnte, erstaunlich.
Fazit: Wie bei Wallstein nicht anders zu erwarten, eine saubere, gut dokumentierte und editierte Ausgabe, mit exzellentem Kommentar, die ganz sicher zum Standardwerk der Rabener-Forschung werden wird. Auch für den Laien nicht ohne Wert, vorausgesetzt, man interessiert sich für die deutsche Aufklärung und ihre heute leider praktisch vergessenen literarischen Protagonisten, deren Freundschaftskreise sich in Rabeners diversen Briefwechseln schön herauskristallisieren. Die „Gespräche“ allerdings beschränken sich auf ein paar wenige Anekdoten und Erinnerungen, die z.T. Jahrzehnte nach Rabeners Tod geschrieben wurden. Darauf hätte ich nun verzichten können.
PS. Auf diese Ausgabe aufmerksam gemacht hat mich für einmal nicht Kollege Köllerer, der am 29. Mai 2012 in seinem Blog die zwei Bände als Neuzugänge seiner Bibliothek verzeichnet („Der Wallstein Verlag übertrifft sich wieder einmal selbst und legt den Briefwechsel des Gottlieb Wilhelm Rabener vor, einem heute nur noch Kennern bekannten Autor des 18. Jahrhunderts“), sondern Marius Fränzel (unter dem Pseudonym Bonaventura), der schon 10 Tage früher das Erscheinen der beiden Bände angezeigt hatte („dieses abseitige Material“, das er „nicht wirklich allgemein empfehlen“ kann, „möchte aber doch das Erscheinen und meine Freude darüber hier anzeigen“). – – – „Abseitiges Material“, „nur noch Kennern bekannt“: Obwohl es mir natürlich schmeichelt, von zwei Grössen des literarischen Bloggings implizit und unbekannterweise als Kenner des Abseitigen anerkannt zu werden – Rabener (und auch Liscov, der andere vergessene grosse Satiriker der deutschen Aufklärung) hätte es verdient, wenn Voss‘ Edition diese Epitheta ändern könnte. Dies wird aber kaum der Fall sein …