Am Beispiel von A. Glucksmanns „Die Cartesianische Revolution“ und W. Röds „Der Gott der reinen Vernunft“
Eines ist nicht richtiger, hat nicht mehr Berechtigung denn das andere. Aber beide Zugänge bergen Fallstricke, wobei es in vorliegendem Falle Glucksmann zu sein scheint, der sich aufs Stolpern verlegt hat. Er stellt uns, wie er schon zu Beginn erwähnt, seinen Descartes vor, er befragt ihn auf seine Bedeutung für heutige Probleme und kommt dabei ins Räsonieren – aber auch in einen Bereich der Unterstellung. So legitim ein solcher Zugang ist: Nicht jeder Philosoph hat auf jedes Problem unserer Zeit eine Antwort – und alsbald schon verliert sich vieles in Vermutungen, fußt auf dubiosen Annahmen und Axiomen, die einen solchen Namen nicht verdienen.
Beispiel: In I,4 untersucht Glucksmann unter dem Titel „Die Befreiung des Eros“ Descartes Bedeutung für Emotionalität, für den Begriff der Liebe. Das hört sich dann folgendermaßen an: „Descartes entbindet den einzelnen. Wovon? Von den Netzen der Liebe. […] Im zu Ende gehenden Griechenland, im Mittelalter, während der Renaissance wurde die Liebe als Verbindung zwischen den Menschen einstimmig gepriesen. Der vom Denken, der Religion und der Kunst gestutzte Eros verband Schöpfer und Geschöpf, Geschöpf und Geschöpf in Frieden und Einigkeit. […] Das Reich der Liebesbeziehung war universal, der cartesianische Individualismus wird ihm darin in nichts nachstehen. Mit ihm beginnt die Herrschaft der Nicht-Liebe.“ Der ganze Absatz ist etwa doppelt so lang, wird aber nicht einsichtiger, wenn man ihn als Ganzes zitiert. Glucksmann referiert eine Idee (zu der man stehen kann wie immer man will), ohne aber für diese Idee (bzw. deren Voraussetzungen) die entsprechenden Belege bei Descartes als auch in der Geistesgeschichte zu suchen. Das Problem solcher Ausführungen ist nicht die These an sich (auch wenn sie mir in diesem Zusammenhang einigermaßen an den Haaren herbeigezogen scheint), sondern das Fehler der Gründe, warum es sich so und nicht anders mit der Liebe bis Descartes und seither verhalte, er fährt schließlich fort, dass (die Herrschaft der Nicht-Liebe) einen „entscheidenden Bruch mit der Jahrtausende alten platonischen Tradition bedeute, die Liebe der Weisheit auf eine Weisheit der Liebe zu reduzieren“. Hier scheint mir jemand zu schreiben um der Formulierung willen, hier hat jemand Freude am eigenen Geschwätz und hört sich gerne reden. Eine These – welche auch immer – muss ich belegen, mit Quellen, Fakten, ich muss mögliche Einwände berücksichtigen, ich muss Argumente liefern, die eben nahelegen, dass eine solche Annahme mehr Plausibilität habe als die gegenteilige. Das hier ist mehr freies Assoziieren, intellektuelles Geplauder ohne Anspruch auf irgendeine Gültigkeit. Die Beliebigkeit solcher Sätze, Kapitel, Bücher ist es, die mich verärgert – die aber andererseits zum Erfolg beiträgt: Kann sich auf diese Weise doch jeder die Ingredienzien für das eigene Süppchen raussuchen.
Röd hingegen versieht in seinem Buch tatsächlich einen Dienst an der Philosophie (bzw. an dem von ihm gewählten Thema eines Gottes der reinen Vernunft). Das Bemühen, sich allein auf Fakten, das Überlieferte zu konzentrieren, ein prägnante Analyse dessen zu liefern, was denn diese Gottesidee für die einzelnen Denker bedeutete bzw. welche Funktion sie in ihrem eigenen System erfüllte, ist allüberall zu spüren. Durch die offenkundige Denkarbeit, die Röd bereits vor der Niederschrift seines Buches leistete, fällt es auch ungleich schwerer zu widersprechen, seine Stellungnahmen sind durchdacht, fundiert, argumentativ abgesichert. Während man bei Glucksmann den Eindruck hat, dass hier vieles um der Forumlierung willen dasteht, es erst während des Schreibens dem Autor in den Sinn kam und dieser sich kaum jemals fragte, ob denn die Ausführungen eines späteren Kapitels zu denen passen, die er zuvor getan hat.
Beim Vergleich dieser beiden Bücher sind meine Präferenzen offenbar. Trotzdem ist ein Zugang wie jener von Glucksmann durchaus sinnvoll und kann – intensive Vorbereitung vorausgesetzt – einen großen Gewinn für die Leser darstellen. Allerdings bedarf es eben intensiver Arbeit, möglicherweise einem Mehr an Arbeit, als dies für eine Art referierender Philosophiegeschichte nötig ist. Wobei diese sich auch sehr oft in kruder Fachterminologie verlieren und häufig jenes Wissen voraussetzt, das sie zu erklären sich vorgenommen hat. (Röds Buch sei explizit von einem solchen Vorwurf ausgenommen.) Wenn aber Leute wie Glucksmann munter drauf losschreiben, hoffend, dass sich irgendwo auf vielen hundert Seiten ein paar Perlen finden mögen und sich ansonsten auf eine selbstgefällig anmutende, sehr persönliche Interpretation zurückziehen, so ist das einfach ärgerlich. Und macht viele Publikationen zu einem zweifelhaften Lesegenuss.
s.