Rivarol: Das ist der Mann, der für die Aufklärung zu spät gekommen ist; der Mann, der um einer Pointe willen auch seinen Freund (seinen Vater, seinen Bruder, seinen Sekretär) bloss stellte; der Mann, der zwischen Stuhl und Bank fiel und darauf hin beschloss, daraus eine Tugend zu machen.
Man kennt ihn heute vor allem als ‚Moralisten‘, d.h., als Verfasser von kurzen, knackig-griffig formulierten Aperçus (Bonmots, Aphorismen…) oder auch als Protagonisten witziger Anekdoten. Selbst das gilt fast nur für Frankreich, im deutschen Sprachraum ist Antoine de Rivarol aus dem Gedächtnis der literarischen Welt verschwunden. Das tut ihm – auch wenn er keiner der ganz Grossen war und ist – ein wenig Unrecht. Sicher, bei allem guten Willen und allem ausgedehnten Wissen (er kannte Montesquieu, Helvétius oder Condillac und setzte sich mit ihnen auseinander), gelang es ihm nie, über die literarischen Kurzformen hinaus zu kommen. Ein Fehler, den er selber fühlte und bedauerte. Nicht nur philosophisch, auch literarisch war er sehr belesen. Aber neben dem Umstand, dass er seine Gedanken nie über Essay-Länge hinaus spinnen konnte, spielte ihm ein anderer Umstand einen fatalen Streich: Rivarol, 1753 geboren, konnte auch sein ganz grosses Talent des im Gespräch geäusserten Ad-hoc-Aperçu nicht mehr voll ausleben. Er war ein satirisch-geistreicher Beobachter mit einem Hang zur Zynik, der seine Beobachtungen auch sogleich los werden musste. Deshalb war er als Unterhalter in der High Society des Ancien Régime geliebt und gefürchtet. Aber er hätte zur Zeit von Louis XIV leben müssen, wo diese Art der Existenz in Blüte stand. So erlebte Rivarol nur noch deren Niedergang, denn diese Art von Gesellschaft, die für ihn fast so etwas wie die Luft zum Atmen war, kollabierte mit der Französischen Revolution. Und, anders als die französischen Aufklärer noch eine Generation vor ihm, benutzte Rivarol die rhetorischen Waffen, die er von einem Voltaire übernommen hatte, in einem dem Voltaire’schen genau entgegen gesetzten Sinn. Als sich in Frankreich Bestrebungen breit machten, eine Art deistischer Religion als Staatsreligion durchzusetzen, ergriff Rivarol das Panier und setzte sich mit allem seinem literarischen Können für die katholische Kirche ein. Als die Revolution dem Königreich ein (zumindest vorübergehendes) Ende machte, ging Rivarol wie so viele ins Exil. Er schrieb auch dort weiter, aber mit dem Zusammenbruch des Ancien Régime hatte auch seine Art zu schreiben geändert. Das eher Philosophisch-Essayistische wich politisch-monarchistischen Themen. Dabei beschäftigte er sich ebenso mit der Zeit von Louis XIV, mit Racine und Molière, wie mit der Zeit von Louis XVI, mit Frau von Staël oder Laclos, mit den Philosophen (womit er eigentlich die Revolutionäre meint, aber auch die Aufklärer, die die Revolution seiner Meinung nach vorbereitet hatten, vor allem Voltaire und Rousseau), und verschont dabei auch Necker und den König selber nicht von Kritik.
Rivarol erlebte noch den Aufstieg von Napoléon zum Ersten Konsul und De-Facto-Alleinherrscher in Frankreich. Auch ihn kritisierte er heftig. Was ihn nicht daran hinderte, als der Erste Konsul die Monarchisten zurück nach Frankreich rief, ebenfalls die Koffer zu packen. Zu spät. Rivarol starb noch im deutschen Exil. Von Hamburg war er nach Berlin umgezogen, wo er, trotz Behandlung durch den Arzt der preussischen Königin, 1801 starb.
Rivarol hatte sein literarisches Erbe nicht geordnet. Zu Lebzeiten publizierte er vor allem politische Pamphlete und einige Personalsatiren – so etwas wie ‚Werke letzter Hand‘ kennen wir nicht. Nach seinem Tod erschien 1808 in Paris eine Werkausgabe in 5 Bänden, die 1968 (!) nachgedruckt wurde, aber bereits wieder vergriffen ist. Dazu gibt es jede Menge an Auswahlausgaben: Sainte-Beuve hat eine solche editiert, im deutschen Sprachraum Ernst Jünger. Heute ist die unter obigem Titel von Ulrich Kunzmann herausgegebene und übersetzte, 2012 bei Matthes & Seitz in Berlin erschienene einbändige Ausgabe die wohl vollständigste noch im Handel erhältliche der Werke Rivarols. Auch in Frankreich gibt es zur Zeit nichts Umfassenderes.
Trotz seiner konservativ-monarchistischen Ausrichtung, die ihn der Revolution und ihren Protagonisten auch Unrecht antun liess, trotz der (gelinde gesagt) frauenfeindlichen Einstellung, die viele seiner Aphorismen verraten: Rivarol gibt einen guten Einblick in jene turbulente Zeit. Vor allem fehlt es ihm auch nicht an jenem Quentchen Selbstironie, das allein politsche Pamphlete aus vergangener Zeit lesenswert hält. Leider geht er fast so schnell vergessen, wie sein Grab, zu dem Johannes Willms in seinem Nachwort schreibt:
Als Varnhagen von Ense es am 28. September 1856 besuchen wollte, war es bereits verschwunden.