Rex Stout: Der rote Stier [OT: The Red Bull (Ersterscheinung als gekürzte Zeitschriften-Version) / Some Buried Caesar (Buchausgabe)]

Marxismus, purer Marxismus … (Allerdings Fraktion Groucho.)

Einmal mehr verlässt Nero Wolfe, der sein Brownstone in New York nie verlässt, eben dieses und auch New York. Er begibt sich in die Provinz, um sich dort an einer Orchideen-Ausstellung mit seinem schärfsten Rivalen zu messen, denn der lässt die New Yorker Ausstellungen systematisch aus, um Wolfe ausweichen zu können. Wolfe aber sucht die Konfrontation.

Auf dem Weg in das Provinzkaff, in dem die Ausstellung stattfindet, platzt an Nero Wolfes Wagen ein Reifen. Archie Goodwin, Fahrer und einziger Begleiter Wolfes, kann das Schlimmste verhindern, aber das Auto ist im Moment fahruntüchtig. Um eine Werkstatt anrufen zu können, brauchen die beiden ein Telefon; um an ein Telefon zu kommen, brauchen die beiden ein Gebäude, wo Menschen leben. (Wir schreiben das Jahr 1938!) In der Ferne, auf einem Hügel, sehen sie etwas, das aussieht, wie wenn dort ein Telefonapparat zu finden sein könnte. Sie tun, was jeder Städter tun würde, und was keinem Landbewohner in den Sinn käme: Sie öffnen das Gatter der vor ihnen stehenden Weide und marschieren querfeldein. Es kommt, wie es kommen muss: Der Stier, der diese Weide bewohnt, betrachtet die beiden als das, was sie sind – ungebetene Eindringlinge. Er beginnt sie systematisch in ein Ecke der Weide zu drängen.

Natürlich werden sie aus dieser Bredouille gerettet und finden sich zum guten Ende auch in jenem Gebäude wieder. Doch damit landen sie zugleich in einem andern Hexenkessel. Der Besitzer des Gebäudes (zugleich der Besitzer des Stiers) will letzteren nämlich, obwohl er ein preisgekröntes Exemplar seiner Rasse ist, schlachten und einem ausgewählten New Yorker Publikum zum Frass vorwerfen. Sämtliche Viehzüchter in seiner Nachbarschaft sind hell entsetzt. Die Ereignisse überstürzen sich: Der Stier, Caesar, wird zwischendurch des Mordes verdächtigt, ebenso Archie Goodwin (nicht an derselben Person), dann wird auch der Stier umgebracht. Der einzige, der den Überblick behält (oder wenigstens so tut – er agiert zögerlich, äusserst zögerlich in dieser Affäre), ist Nero Wolfe.

Natürlich löst Wolfe den Fall. Aber die eigentliche Krimi-Handlung ist zweit- oder drittrangig in diesem Roman. Das zeigt sich nur schon daran, dass die Auflösung hanebüchen, weil beliebig, ist. Es hätte irgendeiner der Protagonisten mit praktisch denselben Motiven überführt werden können. Doch wichtiger als die Auflösung der Mordfälle ist das Drumherum, das Tohuwabohu, das in diesem ruhigen ländlichen Fleck und an der Landwirtschaftsausstellung herrscht, der auch die Orchideenschau angegliedert ist, und die zu besuchen Nero Wolfe deshalb gezwungen ist. Der Roman hätte auch „A Week at the Fair“ heissen können, und damit die hintergründige Verwandtschaft klar gemacht. Denn das anarchische Chaos, das Rex Stout vor den Augen des Lesers ausbreitet, entspricht in vielem dem Chaos, das die Marx Brothers in ihren Filmen halb antreffen, halb selber verbreiten. (Ihre beiden vielleicht besten Filme, A Night at the Opera und A Day at the Races stammen von 1935 und 1937 respektive.)

Nicht, dass Stout Handlung oder Figuren 1:1 kopieren würde. Nero Wolfe, der den ganzen Roman über verzweifelt versucht, eine seinem Gewicht angemessene Sitzgelegenheit zu finden, gibt es so bei den Marx Brothers nicht. Aber Figuren, die – koste es, was es wolle – eine fixe Idee verfolgen, in jeder Menge. Archie Goodwin seinerseits ist eine Mischung aus dem ‚Straight Man‘ Zeppo und dem zynischen (Pseudo-)Intellektuellen Groucho. Ähnlich wie in den Filmen der Marx Brothers finden wir auch völlig absurde Gestalten. Auffallendstes Beispiel ist der Cowboy, der eigentlich ein Bullboy ist, weil er den Stier hüten sollte. Er ist bewaffnet, nur hilft ihm sein Gewehr wenig, weil er nicht die Entschlusskraft hat, wirklich abzudrücken. Aber er liest. Er hat zu Hause ein Buch mit Gedichten, die er zum Teil auch auswendig weiss. Einmal zitiert er Archie gegenüber ein paar Verse. Archie geht darüber hinweg, aber ich kann mir vorstellen, dass er sich von diesem lyrischen Cowboy mit einem ähnlichen Blick ungläubigen Staunens abwandte, den Groucho in solchen Fällen zu haben pflegte. (Der tumbe Tor mit einem Hang zur Poesie ist selbstverständlich eine Spiegelung von Harpo.) Es ist auch dieser Cowboy, der mit einer Verszeile den Titel des Romans geliefert hat: Some buried Caesar ist ein Zitat, nicht aus Shakespeare, wie ich ursprünglich vermutete, sondern aus mittelalterlichen persischen Dichter Omar Khayyam. Genau die Sorte Humor, die ich liebe.

(Das Nachwort von Jürgen Dollase hingegen absolut überflüssig. Herr Dollase kokettiert, kurz zusammengefasst, damit, wie viele Drei-Sterne-Köche er persönlich kennt. Mit Nero Wolfes Auffassung von Haute Cuisine hat das nur am Rande zu tun. Ach ja: Der Detektiv trinkt in diesem Roman so viel Bier aufs Mal, wie sonst selten. Drei Flaschen zu einer Mahlzeit sind Standard. Dafür finden wir am Ende des Buchs das Faksimile einer Postkarte, mit der Wodehouse einem Freund den Erhalt dieses Roman verdankt.)


Rex Stout: Der rote Stier. Aus dem amerikanischen Englisch von Conny Lösch. Stuttgart: Klett-Cotta, 2018.

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