Anlass zu dieser Sammelbesprechung ist die dieses Jahr bei der Folio Society in London erschienene Anthologie The Folio Book of Horror Stories. Als Herausgeber zeichnet Ramsay Campbell. Von ihm stammt auch eine der Stories in diesem Buch. Die Anthologie enthält nur britische und US-amerikanische Autoren und Autorinnen; vielleicht habe ich jemand kanadischen Ursprungs übersehen – ich kenne bei weitem nicht alle Namen. Obwohl die Geschichten chronologisch geordnet sind, ist mit der Anthologie keine Geschichte des Horrors intendiert. Dafür sind es dann doch zu wenige Geschichten. Campbell selber beklagt in seiner Einführung, dass Sheridan Le Fanu wegfallen musste, um andern Namen Platz zu machen. Ich meinerseits möchte auch das Fehlen von Ambrose Bierce beklagen. Von Deutschen (E. T. A. Hoffmann, Tieck!), Franzosen (Lautréamont) oder gar andern Nationen ganz zu schweigen.
Den Inhalt werde ich in der Reihenfolge vorstellen werde, in der die Stories gelistet sind. Manche Texte werde ich kürzer, andere dafür etwas ausführlicher darstellen. Nicht jeder Text nämlich vermochte mich zu überzeugen.
Fangen wir also zusammen mit Campbell an mit jenem Klassiker, der das Genre (wenn nicht erfand, so doch) endgültig definierte:
Edgar Allan Poe: The Fall of the House of Usher (1819)
Diese Geschichte um eine seltsame (inzestuöse?) Geschwisterliebe, um Dekadenz und Untergang einer Familie, um die Angst davor, lebendig begraben zu werden, braucht wohl nicht gross vorgestellt zu werden. Poe versteht es, eine beängstigende Atmosphäre aufzubauen. Er verwendet alle ‚klassischen‘ Motive der Schauerromantik: das einsame Haus, seltsame Geräusche, das verrückte Genie etc. Doch Poe übertreibt nicht, sondern bleibt nüchtern. Auch ist die Geschichte kurz genug, dass er gar nicht zu viel an Schauerelementen einbringen kann.
Charlotte Perkins Gilman: The Yellow Wallpaper (1892)
Irgendwo habe ich gelesen, Gilman sei eine Inspiration für Poe gewesen. Das ist – mit Verlaub – Unsinn. Neben der Chronologie, die das verbietet, ist es auch der Aufbau der Geschichte selber. Eine junge Frau – frisch verheiratet, soeben hat sie ihr erstes Kind zur Welt gebracht – wird wegen depressiver Anwandlungen (wir kennen heute die postnatale Depression) aufs Land gebracht, wo sie sich wieder erholen soll. Ihr Schlafzimmer ist mit einer seltsam gemusterten, gelben Tapete ausgestattet. Je länger desto mehr hat die Frau das Gefühl, hinter dem Tapetenmuster, hinter der Tapete, sei eine Frau eingesperrt. Sie sperrt ihrerseits ihren Gatten aus dem Zimmer aus und beginnt, die Tapete von der Wand zu reissen.
Diese Geschichte wurde schon bald feministisch interpretiert als die Geschichte einer Frau, die sich der Deutungshoheit ihres Mannes entzieht. Noch geht die Emanzipation sozusagen gegen innen, in eine Art innere Emigration, indem die Frau nach den ordentichen Massstäben der sie umgebenden Männerwelt dem Wahnsinn verfällt, verrückt wird.
Die gelbe Tapete ist nicht nur als explizit feministische Horror-Geschichte ein Unikat ihres Genres, sie ist auch wirklich gut geschrieben. (Auch wenn Gilman in eine klassische Falle der Ich-Erzählung tappt und ihre Protagonistin auch dann noch Tagebuch führen lässt, wenn erzählte Zeit und Erzählzeit zusammen fallen und die junge Frau am Boden über ihren ohnmächtigen Gatten kriecht. Nun, auch Camus hat seinen Fremden noch auf dem Weg aufs Schafott Tagebuch führen lassen.)
M. R. James: Count Magnus (1904)
James ist einer der ‚klassischen‘ Autoren im Horror-Genre. Ich kannte ihn bisher nicht (meine Ausflüge in dieses Genre sind eher sporadisch). Count Magnus war zu Lebzeiten eine Art Gilles de Rais. Jetzt ist er tot und in der Familiengruft begraben. Oder doch nicht? Diese Geschichte um einen Wiedergänger, der die ums Leben bringt, die ihn wieder aus dem Grab geholt haben, besticht zwar durch eine dichte Atmosphäre. Es geht ihr aber an eigentlicher Handlung und somit an Spannung ab.
Arthur Machen: The White People (1904)
Machens Story um eine junge Frau („Mädchen“ werden sie ja heute schon im Alter von 13 oder 14 – so alt ist die Protagonistin zu Beginn – nicht mehr genannt), die der Feenwelt verfällt, ist ebenfalls klassisch. Sie ist als Rahmen- + Binnenerzählung konstruiert, indem in der Rahmenerzählung das Tagebuch der verschwundenen Protagonistin vorgelesen wird, das dann logischerweise die Binnenerzählung vorstellt. Auch für die Geschichte Machens gilt Ähnliches wie für die von M. R. James: Sie besticht zwar durch eine dichte Atmosphäre. Es geht ihr aber an eigentlicher Handlung und somit an Spannung ab. Erschwerend kommt noch hinzu, dass ihr ein eigentlicher roter Faden fehlt. Ich weiss von weniger bekannten Stories Machens, die besser aufgebaut sind.
Algernon Blackwood: Ancient Lights (1912)
Auch Algernon Blackwood ist einer der ‚klassischen‘ Autoren im Horror-Genre, von dem ich bisher noch nichts gelesen habe (oder falls, wieder vergessen habe). Ein Städter kommt aufs Land, weil er dort einen Kunden aufsuchen will. Es geht um ein verzaubertes Stück Wald, dass der Kunde gerne abholzen lassen würde. Leider erfährt der Städter von der Verzauberung erst, als sie ihn beinahe das Leben gekostet hat.
Ein Stück Horror mit einer klassischen Pointe also. Gut gemacht und auch mit einer Prise Ironie sich selber und dem Genre gegenüber.
H. P. Lovecraft: The Music of Eric Zann
The Music of Eric Zann gehört nicht in Lovecrafts Cthulhu-Universum. Sie hat ihre Wurzeln eher bei den gespenstischen Künstlernovellen eines E. T. A. Hoffmann. Vieles erinnert an den Deutschen: Ein verwunschenes Stadtviertel, das der Erzähler später so wenig wieder findet, wie die dort gelegene billige Absteige, in der er als Student gewohnt hat und in der er den Musiker Eric Zann kennenlernte. Dieser Geiger, der offenbar gegen das Eindringen des Nichts in diese unsere Welt anmusiziert, und offenbar verliert, ist die dämonische Variante von Grillparzers biedermeierlich-braven Armen Spielmann.
Fritz Leiber: Smoke Ghost (1941)
Mit Leiber haben wir den letzten ‚Klassiker‘ des Genres vor uns. Auch von ihm habe ich bisher noch nichts gelesen. Leiber transportiert den Horror in seine industrielle und mit Dreck und Russ aus den Fabrikschornsteinen verseuchte Zeit. Sein Gespenst besteht offenbar aus dem Rauch, den diese Kamine ausstossen. Gut gemacht.
Margaret St. Clair: Brenda (1954)
Mit Brenda betreten wir definitiv die Moderne, obwohl die Geschichte um das seltsame Wesen, das die Titelheldin unter der Erde einschliesst, auf den ersten Blick eher romantisch erscheint. Im Hintergrund aber ist es eine Geschichte um erwachende Sexualität und Selbstbewusstsein einer jungen Frau (zum Begriff ‚junge Frau‘ s. oben bei Arthur Machen – der im Übrigen ähnlich wie St. Clair hier gelesen werden könnte, nur dass bei ihm die junge Frau an ihrer Emanzipation scheitert).
Shirley Jackson: The Bus (1965)
Die schwächste Geschichte der Anthologie, weil vorhersehbar. Handwerklich gut gemacht, aber das ist auch schon alles.
Ramsay Campell: Again (1981)
Der eigene Beitrag des Herausgebers handelt von einem merkwürdigen Haus, in das sich der Ich-Erzähler verirrt. Die Bewohner müssen allerlei ungewöhnlichen Sexualpraktiken gefrönt haben. Jetzt ist er tot (bei der Ausführung einer solchen Praxis gestorben, oder gar absichtlich von ihr – zwecks noch mehr sexueller Erregung? – getötet?), und sie sucht offenbar im Ich-Erzähler ein neues Opfer.
Thomas Ligotti: Vastarien (1987)
Ein Buch bringt einen Mann im wahrsten Sinne des Wortes zum Wahnsinn. Er wird verrückt, nämlich in das seltsame Land Vastarien verrückt. Die Erzählung ist leider etwas wirr. Ich habe jedenfalls nicht alles verstanden, aber ich glaube, sie ist gut.
Dennis Etchison: Call Home (1991)
Horror nur in dem Sinne, dass hier eine weitere junge Frau ihre erwachende Sexualität an verschiedenen Männern testet, deren Leben sie dadurch ruiniert.
Stephen King: 1408 (2002)
King kann schreiben. Die Geschichte um den seltsamen Raum 1408 in einer billigen New Yorker Absteige, der einen ungläubigen Thomas von Geschichtenerzähler beinahe umbringt, hat Zug und Gruselfaktor. Gutes Handwerk, keine Weltliteratur.
Reggie Oliver: Flowers of the Sea (2011)
Leider zerstört ein reisserisch aufgemachter, gruselig sein sollender Schluss den guten Eindruck dieser Geschichte. Dabei war es schon Horror genug, in der Erzählung ihres Mannes dem allmählichen Zerfall Helens an Altersdemenz zuzuschauen. Hier wollte der Autor zu viel und hat seine Geschichte ruiniert.
Adam Nevill: Hippocampus (2015)
Eine kafkaeske Geschichte von einem, der auf einem verlassenen Schiff herumstreunt und dabei den einen oder andern menschlichen und mit Blut überströmten Körperteil findet. Kein Anfang, kein Ende und genau deshalb verstörend.
Fazit: Es fällt auf, wie viele der älteren Geschichten zum ersten Mal im Magazin Weird Tales erschienen sind. Viele der ganz Grossen haben ihre Geschichten gern in dieser Zeitschrift veröffentlicht, einer Zeitschrift, deren postumer Ruhm grösser ist, als es ihr finanzieller Erfolg zu Lebzeiten war.
Es fällt weiter auf, wie viele Geschichten mit einem sexuellen Basso continuo unterlegt sind. Vor allem die weibliche Pubertät, das Erwachen der weiblichen Sexualität, aber auch die weibliche Sexualität allgemein, scheinen Angst zu machen, selbst Autorinnen, und werden unterschwellig immer wieder thematisiert bzw. dämonisiert. Wie weit das an der Auswahl des Herausgebers liegt, wie weit am Genre selber, möchte ich mangels Kenntnissen des Genres nicht entscheiden.
Anthologien könnten immer anderes und Besseres enthalten. Ich hätte mir den einen oder andern Klassiker mehr und dafür den einen oder andern relativ nichtssagenden Modernen weniger gewünscht.