Dichter der Distanz – Adalbert Stifters “Der Hochwald”

Ich kenne keinen Romancier, der auch nur ähnlich gute Landschaften oder Stillleben machen könnte wie Stifter. (Und selbst unter den Nicht-Romanciers kenne ich nur von  Brockes oder Thoreau ähnlich präzise Wortzeichnungen.) Stifters Beschreibungen der heimatlichen Landschaft oder seiner eigenen (in die Fiktion transponierten) Möbel z.B. in Der Nachsommer sind meiner Meinung nach unerreicht.

So setzt auch Der Hochwald mit einer grossartigen Naturbeschreibung ein:

An der Mitternachtseite des Ländchens Oesterreich zieht ein Wald an die dreißig Meilen lang seinen Dämmerstreifen westwärts, beginnend an den Quellen des Flusses Thaia, und fortstrebend bis zu jenem Gränzknoten, wo das böhmische Land mit Oesterreich und Baiern zusammenstößt. Dort, wie oft die Nadeln bei Kristallbildungen, schoß ein Gewimmel mächtiger Joche und Rücken gegen einander, und schob einen derben Gebirgsstock empor, der nun den drei Landen weithin sein Waldesblau zeigt, und ihnen allerseits wogiges Hügelland und strömende Bäche absendet. Er beugt, wie Seinesgleichen öfter, den Lauf der Bergeslinie ab, und sie geht dann mitternachtwärts viele Tagreisen weiter.

Wir sehen sofort, wie Stifter die Landschaft dynaminisiert, sie sozusagen lebendig macht. (Wir werden zum Schluss noch sehen, wie er diese Dynamiserung der Handlung beiordnet, die Natur zum Propheten machend.)

Stifter ist Erzähler, und so gehört auch eine Handlung in seinen Text. Die ist im Grunde genommen rasch erzählt. In der Rahmenerzählung wandert das erzählende Ich in oben beschriebenem Wald, bis es am Fuss einer Ruine rastet und sich an die Geschichte von deren letzten Bewohnern erinnert. Diese bildet die Binnenerzählung, spielt zur Zeit des Dreissigjährigen Krieges und schildert, wie die Kriegsläufe eine Liebe und eine Familie auslöschen. Der Krieg steht dabei im Hintergrund (Stifter war kein Schlachtenmaler!); wichtig ist Stifter das in die Landschaft eingebettete, von der Landschaft wieder in Erinnerung gerufene menschliche Schicksal.

Beim Maler von Landschaften wie beim Maler von Stillleben kommt nun alles auf die richtige Distanz an. “Distanz” ist bei Stifter wichtig. Räumliche Distanz: Wie die Kriegshandlungen sich dem elterlichen Schloss nähern, begeben sich die beiden Töchter des Burgherren auf Distanz, sie flüchten in eine (äusserst komfortable!) Waldhütte. Aus dieser Distanz ist aber auch wieder Nähe möglich: Mit einem Fernrohr (das mit seinem Namen und seiner Bestimmung gleichzeitig die Ferne und die Nähe suggeriert!) beobachten die beiden Töchter das elterliche Schloss. Distanz auch zwischen den Generationen: Sowohl im Verhalten von Kind gegen Eltern, wie in der Beschreibung des Äusseren der älteren Generation (edle Greise mit – teils wallendem – weissem Haar) hat man als Leser das Gefühl, nicht Vater und Sohn (im Nachsommer), nicht Vater und Töchter (im Hochwald) zuzusehen, sondern Grossvater und Enkel. Vielleicht hängt diese gefühlte grosse Distanz hier auch mit der Abwesenheit der Mutter zusammen, die den Schwestern schon zehn Jahre vor Einsetzen der Erzählung gestorben ist. Distanz zwischen den Geschlechtern: Bei Stifter gibt es körperliche Berührung nur zwischen Gleichgeschlechtlichen – ein Händedruck unter Männern, Umarmungen unter Frauen, “heiße Küsse” nur unter nahe verwandten Frauen, hier den beiden Schwestern. Distanz sogar bei der Auflösung der Geschichte: Die beiden Schwestern sehen durchs Fernrohr plötzlich nicht mehr die trutzige Burg, sondern eine traurige abgebrannte Ruine. Das letzte Kapitel der Erzählung dann zeigt die Schwestern zwar wieder in der Burg hausend, nun aber in der Distanz von ein paar Jahren. Ein befreundeter Ritter, der damals zur Burgbesatzung gehört hatte, erscheint und berichtet den Fräulein nun die Ereignisse von damals. Und last but not least erfährt der Leser, wie sich das Fräulein noch aus der Distanz von sechzig Jahren an ihren im Kampf verstorbenen Ritter erinnert: an einen Jüngling mit blondem, lockigem Haar – alle Distanz so wieder aufhebend.

Die Geschichte ist also gut genug konstruiert, und die Landschaftsbeschreibungen suchen ihresgleichen. Leider aber weist der Erzähler Stifter ein grosses Manko auf: “Handlung” kann er nur schlecht, Liebesgeschichte gar nicht. Woher diese ungeheure Prüderie kommt, die macht, dass zwei Liebende nebeneinander sitzen können, ohne sich im Geringsten zu berühren, nur – und zwar äusserst gestelzt! – miteinander redend, ist mir ein Rätsel. Seine Zeitgenossen Meyer oder Storm zeichnen bedeutend unbefangenere Liebespaare. Selbst Keller – der ja nun wirklich auf keine eigenen, glücklichen Erfahrungen zurückgreifen konnte! – kennt diese seltsame Steifheit nicht. Und wenn dann einmal (wie gesagt nur unter den Schwestern) körperliche Nähe auftaucht und spontane Gefühle wallen sollten – wird Stifter kitschig. Ich weiss nicht, ob Killy das 5. Kapitel (Die Waldwiese) aus dem Hochwald in seine Kitsch-Sammlung aufgenommen hat – verdient hätte es dies auf jeden Fall. Nicht nur kann Stifter keine Liebesgeschichte, er verbrät auch die kitschigsten Redewendungen, die man sich vorstellen kann. Da sitzt des Nachts die liebende Schwester Clarissa “mit Inbrunst”, “badete das gehobne [sic!] Antlitz [nicht etwa das simple Gesicht!] in den Strahlen des Mondes” und bricht zu guter Letzt “in einen Strom siedend heißer Tränen” aus; Tränen, die zwei Sätze und eben so viele Abschnitte weiter dann plötzlich “milde Perlen” sind. Kitsch as Kitsch can. Und selbstverständlich entpuppt sich Ronald, der hier zum ersten Mal in der Geschichte auftauchende Geliebte Clarissas, nicht einfach als Waldläufer (zu jener Zeit und an jenem Ort “Wildschütz” geheissen), auch wenn Coopers Waldläufer mit Pate stand für den Hochwald, sondern als illegitimer Sohn von Gustav Adolf, und selbstverständlich deutet er dies nur an. Und selbstverständlich ist Johanna, die Jüngere, voller übler Vorahnungen.

Vor allem dieses 5. Kapitel hätte der Leser gern anders gesehen.

Wenn die Gefühle abgehandelt sind, kann Stifter wieder zu seiner Natur zurückkehren, und so wird er im folgenden Kapitel wieder richtig gut. Lassen wir diese Bemerkungen versöhnlich mit einer seiner schönen Passagen ausklingen:

Der zarte, schwerfällige Sohn des Spätjahres hatte sich bereits   eingestellt, der Nebel, und oft, wenn die Schwestern an der noch immer sonnenwarmen Wand ihrer Felsen saßen, die einzelnen Glanzblicke des Tages genießend, so wogte und webte er draußen, entweder Spinnenweben über den See und durch die Thäler ziehend, oder silberne Inseln und   Waldesstücke durcheinander wälzend, ein wunderbar Farbengewühl von Weiß und Grau und der rothen Herbstglut der Wälder; dazu mischte sich die Sonne und wob heiße weißgeschmolzne Blitze und kalte feuchte blaue Schatten hinein, daß ein Schmelz quoll, schöner und inniger, als alle Farben des Frühlings und Sommers. Und wenn die Mädchen dann so schweigend hinaussahen, so rieselte es neben ihnen leise, und ein oder zwei blutrothe Blätter des Waldkirschbaumes fielen zu ihren Füßen. Sie saßen da und sahen selber herbstlich trauernd dem Schauspiele zu, ahnend, wie majestätisch der Winter hier sein müsse, da sich ihm ihre Wildniß mit solcher Feierlichkeit und Stille entgegenrüste. Im Hause wurden Hauen, Schaufeln, Schneereife, Schlitten und andere Geräthe angehäuft, um nicht eingeschneit zu werden, oder durch Schneemassen von der Welt abgeschnitten.

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