Edmond & Jules de Goncourt: Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben. 2: 1858-1860

Um es vorweg zu nehmen: Die Warnung, die jener “P. H. für die Brüder P. & G. H.” in seinem kurzen Vorwort zu Band 1 des Journals herausgegeben hat – nämlich die Lektüre nicht mit Band 1 oder 2 zu beginnen, weil diese wenig(er) Interesse für den heutigen Leser hätten – diese Warnung gilt für Band 2 in bedeutend grösserem Masse als für Band 1.

Tatsächlich finden wir kaum Bonmots, jedenfalls kaum gelungene. Es wird zwar immer wieder versucht, Beobachtungen in kurze und knappe Sentenzen zusammenzufassen, aber der zündende Funke springt nicht über, die Sentenzen wirken platt oder sind kaum verständlich. Die Goncourts schreiben an ihrem ersten grossen Roman (Hommes de lettres), und das scheint ihre Kräfte zu absorbieren. Und wenn sie welche übrig haben, verwenden sie sie auf das Objekt ihres Romans, den Boulevard-Journalismus der Zeit. Der Roman – ich kenne ihn nicht – muss sehr realistisch sein, zumindest ein führender Mann der Boulevard-Presse darin leicht erkenntlich geschildert, wenn er auch gemäss den Tagebuch-Eintragungen der Goncourts nicht die Hauptperson ist. Aber der Einfluss des Boulevards war derart gross, dass sich alle Verleger wanden und eine Veröffentlichung ablehnten. (So jedenfalls die Version der Goncourts in ihrem Tagebuch.) Dass, wie es meist geschieht, die Exponenten des Boulevards nach 150 Jahren unbekannt und uninteressant geworden sind, mindert aber das interesselose Wohlgefallen des heutigen Lesers. Und wenn der zweite Dunstkreis, in dem die Goncourts sich aufhalten und über den sie im Tagebuch witzeln, das Theater der Zeit ist, so treffen wir abermals auf längst untergegangene Stars, die unser heutiges Interesse auch nicht zu wecken wissen – um so mehr, als (wie bereits gesagt) der Witz der Goncourts merkwürdig stumpf bleibt und per se nicht aufzurütteln weiss.

Daneben bleibt das Interesse der Brüder an Paul Gavarni, ihre Freundschaft mit ihm – auch wenn sie offenbar den Gedanken an ein Buch über ihn mittlerweile aufgegeben haben.

Eine neue Konstante in ihrem Freundeskreis wird Gustave Flaubert. Der hat gerade Madame Bovary beendet und ihretwegen einen Prozess wegen Verstosses gegen die Sitten hinter sich. (Die Goncourts bilden sich übrigens nichts Geringes darauf ein, dass es nur drei(!) Autoren gäbe, deren Schaffen das Second Empire mit dieser Art der Zensur hindern wollte: Flaubert, Baudelaire und sie selber.) Flaubert ist in den Jahren, die der zweite Band des Journals abdeckt, zutiefst versunken ins Studium von Sekundärliteratur zu seinem Karthago-Roman, wie die Brüder ihn nennen (Salammbô). Edmond und Jules beobachten Flaubert fasziniert: Einerseits bewundern sie wohl dessen Fakten-Studium, haben sie doch selber auch Biografien und historische Werke verfasst und fühlen sich dieser Form des Realismus verwandt. Andererseits scheinen sie aber Flaubert im Verdacht zu haben, dass der sich nur in die Sekundärliteratur vergräbt, um eine Schreibblockade zu kaschieren.

Eine Reise der Brüder nach Deutschland wird ebenfalls gemacht, bringt aber wenig Neues. Die beiden Brüder sind ganz eindeutig eingefleischte Pariser und können mit der Welt ausserhalb dieser Stadt wenig anfangen. Entsprechend nichtssagend daher ihre Eintragungen im Tagebuch. Diese Reise sollte übrigens v.a. der Erholung und Zerstreuung von Jules dienen, der zusehends an den Auswirkungen seiner Syphilis leidet.

60 Jahre Differenz und der Unterschied des Lebens in einer echten Grossstadt (Paris) im Gegensatz zum Leben in der Kleinstadt Hamburg machen einen markanten Unterschied aus: Sowohl Benekes Tagebuch wie das der Brüder Goncourt ist in vieler Hinsicht eine Geröllhalde, ein Steinbruch, in dem der Leser selber seine Fundstücke zusammensuchen muss – aber nur die Grossstädter gehen so nonchalant mit der Sexualität um, halten sich ganz offen eine Geliebte und kaufen auch ohne Scham Medikamente gegen ihre venerischen Krankheiten. Kein Zweifel, auch in Paris wird der ’normale‘ Bürger, der nicht zur Bohème zählte, anders gedacht und gehandelt haben. Aber selbst auf ihrer Deutschlandreise ist die interessanteste Episode, die die Goncourts zu erzählen haben, die, wie sie zwei Dienstmädchen für eine Nacht verführen.

Es zeigt sich in dieser Epoche, dass die ganz grosse Begabung der Brüder in der Beobachtung ihrer Mitmenschen liegt. Sie haben nur noch nicht ganz die wirklich interessanten Objekt für ihre Beobachtungen gefunden.

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