Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften 6

Fassen wir zusammen: Die ersten sechs Bände der auf deren 12 angelegten kritischen Ausgabe der Werke Robert Musils (Herausgeber: Walter Fanta) haben den Mann ohne Eigenschaften zum Inhalt. Die ersten drei davon (1, 2, 3) präsentieren den Roman in praktisch der Form, in die er seinerzeit von Adolf Frisé gegossen wurde. Bände 4 und 5 bringen Varianten des Schlusses. Im hier vorliegenden Band 6 können wir verschiedene Stufen dessen mitverfolgen, wie sich Musil einmal den Anfang des Romans gedacht hat.

Dabei stellen wir rasch fest: Musil hatte nicht nur Mühe, aus dem Roman heraus zu finden; er hatte fast ebenso grosse Mühe, in ihn hinein zu finden. Auch vom Beginn nämlich gibt es einige Varianten. Fanta unterscheidet deren folgende:

Der Spion (1919-1920)
Der Erlöser (1921-1922)
Die Zwillingsschwester (1924-1925)
Die Kapitelgruppen (1928)

Musils Technik war es, einzelne Kapitel recht detailliert auszuschreiben. Diese so gefüllten Blätter wurden feinsäuberlich zusammen abgelegt. Überarbeitungen bestanden meist darin, die Texte von Grund auf nochmals zu schreiben. Hin und wieder allerdings verwendete er eine Art Collage-Technik, indem er bereits Geschriebenes an einem neuen Ort einfügte. Ebenso kam es manchmal vor, dass er in einem Text auf einen anderswo bereits abgelegten verwies. Bereits Umgearbeitetes vernichtete er; so haben wir keine direkten „Vorstufen“, keine „Masterpläne“. Was blieb, sind immer recht ausführliche Texte. Fanta hat für Band 6 aus den auf einander verweisenden Fragmenten einen Lesetext zusammengestellt, ohne grossen kritischen Apparat (der ist im Internet zu finden).

Bei der Lektüre dieser Fragmente stellt sich dem Leser ein Aha-Erlebnis ein. Man sieht nun, was das hauptsächliche Problem gewesen sein muss, das Musil an einer Fertigstellung hinderte: nämlich der Mann ohne Eigenschaften höchstpersönlich. Der schliesslich publizierte erste Teil des Roman stellt Ulrichs Wesen und Tätigkeiten immer im grösseren Rahmen kakanischen Wesens und kakanischer Tätigkeiten vor – vor allem der sogenannten Parallelaktion. Erst der zweite Band konzentriert sich wirklich auf den Mann ohne Eigenschaften selber. Was wie ein Bruch in der Konzeption wirkt (und auch einer ist) liegt aber schon in den ursprünglichen Varianten des Anfangs vor: Auch diese konzentrieren sich in hohem Mass auf den Mann ohne Eigenschaften – und auf seine Liebeshändel.

Es zeigt sich, dass es die Beschäftigung mit diesem Mann ist, die den Text jedes Mal zäh werden lässt, ihn nicht voran kommen lässt. Auch wenn Ulrich in den frühen Varianten noch nicht Der Mann ohne Eigenschaften ist, sondern eben Der Spion und später Der Erlöser, ja, noch nicht einmal Ulrich genannt wird, sondern Achilles, und später anders (nämlich Anders, wobei mir nicht klar wurde, ob das nun sein Vor- oder sein Nachname sein sollte): Sein Grundproblem ist immer dasselbe. Wo er extravagante Ideen oder Tätigkeiten entwickelt, wirkt er unfreiwillig komisch (so war z.B. einmal angedacht, dass er es war, der sich exzessiv für den Mörder Moosbrugger interessiert, ja ihm sogar zur Flucht aus der Irrenanstalt verhelfen will), wo er nichts derartiges tut, wird die Erzählung breiig-zäh. Versuche, sich vom Mann ohne Eigenschaften abzuwenden und Leben und Tätigkeiten anderer Figuren zu schildern, z.B. die Beschreibung davon, wie Clarisse in den Wahnsinn abgleitet, arbeiten mit zum Teil kruden psychologischen Ideen und sind ebenso zäh. Arnheim, der in der finalen Version von Band 1 so etwas wie der Gegenpol und Gegenspieler Ulrichs darstellt, spielt in den frühen Varianten noch keine grosse Rolle. (Auch er heisst zu Beginn noch nicht Arnheim sondern trägt ganz naiv den Namen seines Vorbilds im ‚echten Leben‘: Walther Rathenau. Dass die Ermordung Rathenaus im Jahr 1922 die Figur des Arnheim für Musil problematisch werden liess, wird wohl nicht verwundern.)

Literarisch gesehen, ist meiner Meinung nach ein einziges Kapitel im Erlöser wertvoll. Dort gelingt es Musil, in der Schilderung eines Adria-Aufenthalts von Agathe und ihrem Bruder, den Leser spüren zu lassen, warum diese Liebe zwischen Bruder und Schwester von den beiden als etwas ganz Besonderes empfunden wird. Manch anderer Autor hätte diese Geschichte aus dem Konvolut des Romans herausgelöst und als Novelle veröffentlicht. Musil hat die Episode in dieser Form verworfen und beiseite gelegt.

Alles in allem haben wir hier also Texte vor uns, die tatsächlich und vor allem für die Genese des Mannes ohne Eigenschaften interessant sind; an und für sich betrachtet aber handelt es sich bei ihnen um tastend-zähe Dinger. Eine Lektüre macht nur vor dem Hintergrund der veröffentlichten Teile Spass.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert