Zeitgenössische Science Fiction lese ich nur wenig, wie ich mich überhaupt aktuell kaum mit diesem Genre beschäftige. Ich kenne mich dementsprechend schlecht darin aus. Neulich aber wurde in den Social Media dieser Roman von Connie Willis sehr empfohlen. Sie ist, was ich natürlich vorher nicht wusste, mehrfache Empfängerin der ganz großen Preise des Genres, Hugo und Nebula. Somit durfte ich gespannt sein auf Die Straße nach Roswell, wie der Roman auf Deutsch heißt.
Roswell ist in den USA noch bekannter als in Europa. Aber auch hier kennen wir den Namen, natürlich vermittelt durch US-amerikanische Filme und TV-Serien. Eigentlich ist es nur ein kleines Nest im US-Bundesstaat New Mexico. Nicht der Rede wert, wäre da nicht der so genannte Roswell Incident: 1947 stürzte in der Nähe der Stadt ein Objekt ab. Der Absturzort wurde sofort von der Militärpolizei abgesperrt. In der Folge entstanden Gerüchte, wonach das abgestürzte Objekt ein UFO gewesen sei, was Militär und Regierung geheim halten wollten. Schon bald gab es Menschen, die in geheimen militärischen Anlagen gewesen zu sein behaupteten und hinzu fügten, dass sie dort die Leichen der Aliens gesehen hätten. Deren Beschreibung setzte eines jener typischen Aliens im Bewusstsein der Leute fest: an und für sich von Menschengestalt, aber relativ klein, mit grauer oder weißer Haut, riesigen, dunklen Augen und ohne Nase.
Bis heute ist dieses UFO bzw. die Absturzstelle die touristische Attraktion der Gegend und es wird sehr viel Geld damit verdient.
Damit setzt auch Willis’ Roman ein. Eine junge Frau namens Francie macht sich auf den Weg dorthin, um ihrer besten Freundin als Trauzeugin (USA: maid of honor) zu dienen. Diese hat sich in einen überzeugten UFO-Gläubigen verliebt, der nur in Roswell heiraten will. Francie hingegen glaubt nicht an solche Dinge und ihr Hauptgrund, nach Roswell zu fliegen, ist, dass sie ihre Freundin von dieser Heirat abhalten will.
In der Widmung ihres Buchs dankt Connie Willis unter anderem folgenden Autoren dafür, dass sie ihr Interesse an Aliens geweckt hätten: Heinlein, Bradbury, Wyndham und Knight. Abgesehen von den Aliens verdankt sie aber für diesen Roman einem am meisten, den sie hier nicht nennt: P. G. Wodehouse. Von ihm übernimmt sie die ganze Figurenführung, eine Handlung, die immer hart an der Grenze zum Chaos stattfindet, weil jede einzelne der zum Schluss sechs Hauptfiguren ihre ganz eigenen Pläne zu verfolgen sucht – Pläne, die durchaus im Widerspruch zu einander stehen. Das führt zu vielen ähnlich komischen Situationen, wie sie Wodehouse so meisterlich vor uns gestellt hat.
Doch während der Engländer seine Leute meistens in einem Landhaus und de facto, wenn nicht de jure, zur Zeit Edwards VII. versammelt, führt uns Willis in ihrem Roman auf einen Road Trip in den 2020ern – ein Road Trip, in dessen Verlauf die Figuren von einem Alien eingesammelt werden. Denn ja: Aliens gibt es wirklich in diesem Buch. Allerdings scheinen sie, wenn man ihr Aussehen betrachtet, eher von Pflanzen abzustammen. So hat zum Beispiel das die Menschen entführende Alien das Aussehen eines so genannten tumbleweed. (Wir kennen diese Pflanze aus allen möglichen US-amerikanischen Filmen, vor allem Western, wo dieses vielarmige und kugelförmige Ding durch die Wüste rollt – den deutschen Namen „Ruthenisches Salzkraut“ allerdings wird kaum jemand kennen oder gar wissen, dass eben dieses Salzkraut als Neophyt auf den amerikanischen Kontinent eingeschleppt wurde, wo es nun als „typisch amerikanisch“ durch jeden zweiten Film kugelt.) Francie tauft das Alien „Indy“, weil es mit seinen ‚Armen‘ ungeheuer schnell und präzise zuschlagen kann – wie Indiana Jones in den Filmen mit seiner Peitsche.
Womit wir beim Leitmotiv des Romans sind. Filme stellen nämlich darin ein wichtiges Hintergrundgeräusch dar. Schon der inszenierte Road Trip erinnert an die vielen „Road Movies“, die Hollywood im Lauf der Jahre hergestellt hat. Dann ist eine der entführten Figuren ein UFO-Gläubiger, der verschiedene Endzeit-Szenarien imaginiert – die von den übrigen Entführten jedes Mal auf eine der vielen Erst-Kontakt-Filme Hollywoods zurückgeführt werden können. Ein weiterer Entführter besitzt ein riesiges Wohnmobil mit einem integrierten Kinosaal, in dem Indy – Westernfilme guckt, weil dieser Entführte Fan dieser Art von Filmen ist. Last but not least stellt sich im Lauf der Geschichte heraus, dass es tatsächlich nicht nur Aliens gibt sondern auch jene Spezialabteilung des FBI, die wir so gut aus der Film-Trilogie Men in Black kennen …
Der Motor der Handlung, was wir erst gegen Ende erfahren, ist, dass Indy sich auf einer Quest befindet: Er inszeniert die ganze Entführung nur, weil er einen Artgenossen finden und retten muss, der sich zu Forschungszwecken auf der Erde aufhält, dies aber bereits viel zu lange. Denn es existieren intergalaktische Gesetze, die zwar einen Aufenthalt zu Forschungszwecken auf der Erde erlauben, diesen aber nur für eine streng limitierte Zeit und ohne dass Kontakt aufgenommen wird mit der Menschheit. Verstöße gegen diese Gesetze werden mit sofortiger Auslöschung der Schuldigen geahndet. Indy, der schon längst Francies bester Freund geworden ist, wird nur deshalb gerettet, weil sie gegenüber der mit der Rückholung der beiden beauftragten Alien-Polizei (eigentlich aus Versehen) Wörter gebraucht, die diese in ihre Sprache so übersetzen, dass aus Indys Mission eine heilige Sache wird, deren hoher Status sogar die Verletzung intergalaktischer Gesetze rechtfertigt. Erst jetzt versteht Francie auch, warum Indy ständig irritiert war und sie unbedingt – neben seiner Suche nach dem Alien-Freund – zu einer Heirat nach Las Vegas bringen will: Hat sie ihm doch von der Heirat ihrer Freundin erzählt, und auch, dass sie unbedingt dort anwesend sein müsse, weil sie deren maid of honor sei. Was wiederum Indy im religiös überhöhten Sinn seiner Kultur verstanden hat.
Ziehen wir die reichlich vorhersehbare und typisch US-amerikanische Love Story ab, die zwischen Francie und einem ‚Man in Black‘ aufgebaut wird, wo zwei taffe Leutlein sich wie so 12-Jährige nicht trauen, dem Gegenüber zu gestehen, dass man in ihn bzw. sie verliebt sei, und zum Schluss Hilfe vom Alien dafür brauchen – zieht man also diesen Kitsch ab (auch wenn er als solcher vielleicht sogar von der Autorin gewollt war und eventuell ebenfalls ironisch verstanden werden müsste), so haben wir hier ein munteres Spiel mit Filmzitaten vor uns, eine verrückt-chaotische Version eines Road Trips, ein für einmal nicht nach dem üblichen Standard gebautes Alien und einen großen Haufen Spinner, die sich mit ihren Plänen und Absichten ständig gegenseitig in die Quere kommen. Gutes und intelligentes Amüsement für ein paar Stunden.
Connie Willis: The Road to Roswell. New Yort: Del Rey, 22023.