John William Polidori: The Vampyre [Der Vampyr]

Wenn die UNESCO nicht nur alte Gebäude, sondern auch vergangene Ereignisse in ihre Sammlung des Weltkulturerbes aufnehmen würde – jene völlig verregneten Tage und Nächte des Sommers von 1816, die der Freundeskreis von Lord Byron in der Villa Diodati am Genfersee verbrachte, müssten dazu gehören. Dieser Freundeskreis – darunter Percy Bysshe Shelley und die damals noch nicht mit Shelley verheiratete Mary – vertrieb sich die Zeit damit, einander eigene und fremde Gruselgeschichten vorzulesen (darunter Beckfords Vathek). Aus den eigenen Geschichten sollten zwei Gestalten das Licht der Welt erblicken, die bis heute in der (wie ich sie nenne) Trivialkultur eine grosse Rolle spielen: Frankenstein und der Vampir. Während allerdings Mary Shelleys Frankenstein von seiner Erfinderin praktisch in der Form hingestellt wurde, die bis heute die gültige Referenz bildet, ist Polidoris Vampyr (so die damalige deutsche Orthographie) heute eher unbekannt. Erst über Sheridan Le Fanus weiblichen und lesbischen Vampir Carmilla gelangte die Gestalt des Vampirs zu ihrer referenzbildenden Ausgestaltung in Form von Bram Stokers Dracula.

Das mag daran liegen, dass Polidori eigentlich Lord Byrons Leibarzt war und kein Schriftsteller wie die übrigen Gäste der Villa Diodati. Tatsächlich wurde die Geschichte bei ihrem Erscheinen (1819 – im gleichen Jahr noch auf Deutsch übersetzt) fälschlich Lord Byron selber zugeschrieben – was er wie Polidori allerdings immer dementierten. Die Geschichte hat denn auch gute Ansätze, aber auch Schwächen.

Es geht in den rund 20 Seiten um den mysteriösen englischen Adligen Lord Ruthven, dessen Bekanntschaft Aubrey, der Ich-Erzähler, ein junger und reicher, aber noch nicht mündiger Mann,  macht. Der Lord wird beschrieben als Figur, die gleichzeitig faszinierend und abstossend auf die Leute wirkt. Aubrey ist zuerst fasziniert. Er überredet seine Vormünder, ihn zusammen mit Lord Ruthven auf die sog. „Grand Tour“ gehen zu lassen, auf die für damalige reiche Engländer schon fast obligatorische Reise durch Europa.  Nunmehr abgestossen durch Ruthvens Charakter, trennt sich Aubrey in Italien von ihm und reist alleine nach Griechenland. Dort trifft er Ianthe, eine Gastwirtstochter, und verliebt sich in sie. Ianthe macht Aubrey mit den Legenden um die Vampire bekannt. Ruthven erscheint ebenfalls in Griechenland, und wenige Zeit später ist Ianthe tot – von einem Vampir umgebracht. Aubrey, der Ruthven nicht mit dem Mord an seiner Geliebten in Verbindung bringt, reist nun wieder mit dem Lord zurück. Unterwegs werden sie von Banditen überfallen. Ruthven stirbt, nicht ohne Aubrey den Schwur abzunehmen ein Jahr und einen Tag lang niemandem von seinem, Ruthvens, Tod zu erzählen.

Mittlerweile hat Aubrey realisiert, dass noch jeder Mensch, der mit Ruthven in näheren Kontakt gekommen ist, dies mit seinem kompletten menschlichen Ruin bezahlt musste. Aubrey kehrt nach England zurück. Dort muss er mit ansehen, wie der wiederauferstandene Ruthven sich an seine, Aubreys, Schwester heranmacht. Aubrey, durch seinen Schwur gebunden, kann sie nicht warnen. Er erleidet einen Nervenzusammenbruch. Endlich ist die von Ruthven festgesetzte Frist zu Ende. Aubrey schreibt seiner Schwester einen Brief – zu spät: Er findet nur noch eine von allem Blut leer gesaugte Leiche. Ruthven seinerseits ist verschwunden.

Der Plot, mit der unerklärten Wiederauferstehung des Bösewichts, dem merkwürdigen Schwur und dem für das unglückliche Ende so gelegen kommenden Nervenzusammenbruch des Erzählers, ist schwach. Die Figur Ruthvens ist mehr eine Skizze denn ein ausgeführter Charakter – was natürlich auch an der Kürze der Geschichte liegt. Dass man diese Story überhaupt Lord Byron zuschreiben konnte, überrascht. Sie ist eine nur dünn übertünchte Spiegelung des Verhältnisses von Polidori selber zu Lord Byron. Byron muss auf seine Umgebung – besonders auf den empfindlichen Arzt italienischen Ursprungs – wohl oft brüskierend gewirkt haben.

Kein Meisterwerk also, aber in seiner Kürze ja schnell gelesen. Und wer immer sich für die momentan in Buchhandlungen und Kinos so allgegenwärtigen Vampire interessiert, sollte deren Urform nicht vernachlässigen. Immerhin ist hier der Zusammenhang von Vampirismus, Blut und Sexualität noch recht unverschleiert dargestellt. Schon bei Stoker sollten die Zusammenhänge besser verschleiert auftreten.

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