Engelbert Humperdincks Märchenspiel in drei Bildern wurde 1890 in Weimar (mit Richard Strauss als Dirigenten) uraufgeführt. Heute ist diese Oper sein bekanntestes Werk und regelmässig in den Repertoires der Opernhäuser zu finden. 1890 war das sog. „Silberne Zeitalter“ in Weimar bereits am Verglühen. Nach der „Goldenen Zeit“ mit Wieland, Goethe, Herder und Schiller, einer Zeit der Blüte der Literatur, waren Carl Augusts Nachfahren auf dem erzherzoglichen Thron darum bemüht, etwas Ähnliches in Musik, Malerei und Bildhauerei zu erreichen, was ihnen zumindest in der Musik sogar gelang. Hänsel und Gretel ist eines der letzten grossen Werke, das noch in Weimar Uraufführung feierte. Humperdinck selber lebte allerdings nie dort.
Die Oper wird der Spätromantik zugezählt. Nicht nur die Themenwahl – ein Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm – bestätigt dies. Auch musikalisch finden wir viel Volkstümlich-Romantisches. Humperdinck hat – schon fast leitmotivisch – immer wieder Volkslieder eingebaut; andere Lieder der Oper sind zwar Kunstlieder, aber mittlerweile ebenfalls im Volksliedgut angekommen. Humperdinck hat sich auch später sehr um das Volkslied und den Amateur-Sänger bemüht. Hänsel und Gretel ist die einzige mir bekannte Oper, in der ein echter Kinderchor mitwirkt, und die man als „Kinderoper“ bezeichnen könnte.
Das Internet erleichtert gewisse Dinge ungemein. So habe ich mir diese Oper zeitverschoben in einer Aufführung der Jacobs School of Music, einer Abteilung der Indiana University in Bloomington, Illinois, vom 15. November 2013 zu Gemüte geführt. Dirigent: Arthur Fagen, Regisseur: Vincent Liotta. Die übrigen Ausführenden sind Musikstudenten. Das ist zugleich die Schwäche und die Stärke dieser Aufführung. Sie ist musikalisch perfekt, ohne aber herausragende Höhepunkte aufzuweisen. Bühnenbild wie musikalische Interpretation zeichnen sich nur dadurch aus, dass sie sich durch nichts Besonderes auszeichnen. Das ist m.M.n. auch in Ordnung – die Studenten lernen sicher mehr, wenn sie eine konventionelle Aufführung einüben, die keine Fehler erlaubt, als eine unkonventionelle, wo Fehler als „gewollt“ kaschiert werden könnten.
Typisch vielleicht für die ganze Aufführung war schon das Vorspiel. In der Interpretation der Jacobs School of Music dauert es rund 10 Minuten. Für meinen Geschmack werden die Bläser allerdings zu stark unterdrückt. Die (auch in der Video-Aufnahme optisch nachvollziehbare!) Dominanz der Streicher macht das Vorspiel süsslicher als es m.M.n. sein müsste. Mehr Blech hätte das Dämonische, Übernatürliche, das schon im Grimm’schen Märchen stark vorhanden ist, und in der Oper durch Hinzufügen fantastisch-irrealer Figuren noch verstärkt wird, besser angezeigt. Überhaupt tendiert die Aufführung ein bisschen arg ins Süssliche, Klischéehafte. Auch in der Ausstattung kann man das nachvollziehen: Wenn Hänsel in der Lederhose und Gretel im Dirndl auftreten, so wird hier das US-amerikanische Bild des typischen Deutschen bedient. Wenn dann die Lebkuchenmänner vor dem Lebkuchenhäuschen der Hexe aussehen, wie US-amerikanische Gingerbread-Men, nur dass sie ebenfalls Lederhosen tragen, wird’s für den Europäer unfreiwillig komisch. Gelungener sind da die Abendszenen mit den 14 Engeln oder das Taumännchen. Hier passt das Süssliche eher zur Intention des Komponisten.
Last but not least: Ich habe ein prinzipielles Problem mit Hosenrollen. Hänsel, ein Mezzosopran oder Alt, könnte zwar theoretisch von einem Jungen gesungen werden, wird es aber m.W. in der Praxis nicht. (Kinderarbeit, und so…) Also steckt man eine Frau in die (in diesem Fall, wie gesagt: Leder-)Hose. Mich irritiert in solchen Fällen halt dann immer, dass genau dort, wo in dieser Hose etwas sein müsste (auch schon bei Knaben!) ganz demonstrativ – nix ist. Warum Hosenrollenträgerinnen ihre Hosen nicht so weit schneidern lassen können oder wollen, dass nicht auf den ersten Blick auffällt, dass da etwas faul ist im Staate Dänemark, entzieht sich meinem Verständnis. So ein plumper Naturalismus zerstört regelmässig meine Illusionen…
Die Aufführung kann unter folgendem Link angeschaut werden:
http://music.indiana.edu/iumusiclive/streaming/
Unten dann die gewünschte Aufführung heraussuchen. Achtung: Irgendwann werden die Aufführungen dann gelöscht, bzw. mit neueren ersetzt!