Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. [1791:] Vierter Teil

Vier Jahre liegen zwischen Teil 3 und Teil 4 der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, mehr als zwischen den anderen drei Teilen zusammen. Schon das weist darauf hin, dass der Autor offenbar mehr und mehr Mühe mit seinem Text, mit seinem Thema bekundete. Ein angedachter fünfter Teil blieb denn auch nach ein paar Vorarbeiten liegen und Herder schrieb sinngemäß an Körner, dass er diesen (zumindest) in Weimar nicht mehr schreiben werde können. Der Grund dafür ist natürlich zum Teil ganz allgemein an der immer düsterer werdenden Einstellung Herders zur Welt im Allgemeinen, Weimar im Speziellen zu suchen. Den Optimismus, den ich noch im dritten Teil bewundert habe: Er ist im vierten überraschend rasch und endgültig verschwunden. Herders Kapitulation liegt aber nicht nur in Personen oder Orten, sie liegt auch in der Sache, bzw. Herders Art und Weise, wie er diese anging; und das lässt sich schon im vierten Teil nachvollziehen.

Gleich auf dem Titelblatt finden wir ein abgeändertes Zitat Vergils. Wo dieser zu Beginn der Aeneis sagt: Tantae molis erat Romanam condere gentem (Mühevoll war es, das römische Volk zu begründen), schreibt Herder … Germanas condere gentes: die germanischen Völker zu begründen. Wobei Herder im Geist seiner Zeit, aber historisch unkorrekt, fast immer von den Deutschen und von Deutschland spricht, wenn er die Germanen meint. (So, wie er auch von Nationen spricht, wenn er z.B. die Franken, die Alemannen oder die Normannen meint.)

Ort und Zeit von Teil 4 sind ziemlich genau definiert. Der nämlich handelt örtlich praktisch nur von Europa und den angrenzenden Regionen rund ums Mittelmeer, zeitlich in etwa von der Völkerwanderung und dem Zusammenbruch Westroms bis zu der heraufkommenden Reformation und Renaissance. Manchmal greift er örtlich ein wenig weiter aus – so, wenn er von den Kalifaten im Mittleren Osten spricht. Auch zeitlich greift er manchmal zurück – so, wenn er von Jesus von Nazaret spricht. Grosso modo also befinden wir uns im Mittelalter, oder, wie es Herder formuliert, in der mittleren Zeit. Für Herder ist die Geschichte dieser Zeit in hohem Maß Religions- bzw. Kirchengeschichte. Wenn er von Jesus spricht (und ihm ist ein ganzes Kapitel gewidmet), ist es für den Autor der moralisch hochstehende Mensch, der versucht hat, den jüdischen Glauben zu reformieren. Wenn Jesus ein baldiges Ende der Welt verkündete, dann, weil er selber daran glaubte. Es fällt sofort auf, dass Herder von Jesus nur als vom Menschensohn spricht und Wert darauf legt, dass dieser sich selber immer nur so genannt habe – Christus, den Sohn Gottes und selber Gott, erwähnt er mit keinem Wort. Es war für ihn sogar der Sündenfall Konstantins, dass er die Nazarener zu Christen und deren Glaube zur Staatsreligion gemacht hatte. Dass nach dem Zusammenbruch Westroms der Bischof von Rom nach und nach die weltliche Vormacht des alten Roms zu einer neuen, geistigen und geistlichen aus- und umgebaut hatte, war für Herder eine schon fast logisch zu nennende Konsequenz aus Konstantins Sündenfall. Dass eine geistliche Vormacht die Gelüste nach einer ebensolchen weltlichen wecken würde, auch. Dass das Christentum damit von einem hohen moralischen Standard abgesunken war in den Sumpf von Intrigen und Machtspielen, macht es unserem Autor nicht sympathischer. In diesem Sumpf versanken ihm auch die Herrscher, die er als die Großen betrachten musste: Theoderich, Karl, der Staufer Friedrich II. etc. (Denn anders, als dass große Herrscher die Geschichte antrieben, konnte es sich Herder nicht vorstellen.)

Wir haben da also einen evangelischen Theologen, der über Jesus schreibt und dessen Sohnestum Gottes mit keinem Wort erwähnt! Wir haben einen Generalsuperindendenten, also den obersten Leiter der Weimar-Eisenach’schen Landeskirche, der gegen die Verknöcherung der Kirche wettert, gegen die unerquickliche Verknüpfung von Kirche und Staat! Seine Invektiven gelten zwar der katholischen Kirche, dem Katholizismus allgemein, und das hätte man ihm vielleicht noch verziehen – auch wenn sie 1791 inopportun waren. Aber – und hiermit kommen wir zum fünften, nicht mehr geschriebenen Teil: Was hätte Herder über die Reformation schreiben können? Ist mit Luthers Reformation, der daraus resultierenden Bildung der protestantischen (Landes-)Kirchen in Deutschland, nicht genau dasselbe geschehen, wie mit der Reformation, die Jesus von Nazaret mit dem Judentum anstrebte? Ich fürchte, Herder hat es so gesehen.

Denn er hat sogar noch ein anderes Beispiel für den Verfall einer Religion, die an die irdischen Fleischtöpfe gelangt ist: die Reformation, die Mohammed mit dem Glauben seiner arabischen Zeitgenossen angestrebt hatte, und die ebenfalls in kürzester Zeit zur Bildung von Staaten und dadurch zur Verweichlichung ihrer Herrscher und Völker geführt hatte. (Natürlich sieht und schildert Herder die Unterschiede, aber die großen Züge sind für ihn doch wohl dieselben.)

Zusammengefasst kann ich sagen: Mit seinen seitenlangen Invektiven gegen die katholische Kirche ist Teil 4 fürs 21. Jahrhundert, in dem die katholische Kirche schon lange jene Rolle nicht mehr spielt, die sie im ausgehenden 18. Jahrhundert Herders gerade noch inne hatte, weniger interessant, zumal er die Rolle, die der Islam gegen Ende des 20. Jahrhunderts plötzlich wieder übernehmen sollte, natürlich nicht vorher sehen konnte. Die Wichtigkeit und große Rolle, die der Handel spielte – sei es im Mittelmeer oder in der Ostsee, wo Herder immerhin die Hanse zu mögen scheint – ahnt Herder zwar, aber er kann dem Kaufmannstum im Allgemeinen wenig abgewinnen. Als zentrales Beispiel der Entwicklung des Denkers Herder ist der Text dennoch von geistesgeschichtlicher Wichtigkeit. Auch, weil er zeigt, dass Herder seinem Stand und seiner Zeit voraus war. Die DDR wusste, warum sie ihn und nicht Goethe zu ihrem germanistischen Schutzpatron wählte.

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