Jetzt zeigt es sich auch, warum jener “P. H. für die Brüder P. & G. H.” im Vorwort zum ersten Band der Tagebücher empfohlen hat, die Lektüre derselben mit diesem, dem dritten Band zu beginnen:
Ab ca. 1861 nämlich hat das Tagebuch eine ruhige und sichere Fahrt aufgenommen. Die Brüder wissen nun, was sie darin vermerken wollen und tun das mit verblüffender Konsequenz. Hinzu kommt, dass im Verlauf des Jahres 1862 eine Tischgesellschaft beginnt sich im Restaurant Magny zweimal wöchentlich zum Diner zu treffen. Anzahl Teilnehmer und deren Namen fluktuieren, aber die skeptische Gesellschaft, wie sie die Goncourts einmal in ihrem Tagebuch nennen, besteht namentlich aus Gustave Flaubert (Autor), Théophile Gautier (ebenfalls Autor), Hippolyte Taine (Philosoph und Kritiker), Paul de Saint-Victor (Lamartines Sekretär), Ernest Renan (Religionswissenschafter), Paul Gavarni (Maler und Karikaturist) und Charles-Augustin Sainte-Beuve (Literaturkritiker). Turgenjew, wenn er in Paris ist, mischt ebenfalls mit; George Sand hat Gastauftritte. Jules Goncourt, auf dem die Hauptlast des Tagebuchs liegt, notiert die statt gehabten Gespräche stenografenartig. Da fällt dann schon einmal die eine oder andere Bemerkung, die dem einen oder andern später leid getan haben wird. Prominentester Abwesender aus heutiger Sicht ist Charles Baudelaire, den die Brüder zwar kennen, den sie aber gar nicht mögen und über den bzw. dessen Aussehen sie sich auch schon mal lustig machen. (Ob hier eine natürliche Abneigung des Epikers und Romanciers gegen den Lyriker sich zeigt, eine Abneigung, die ja bekanntlich auch bei Arno Schmidt zum Vorschein kommt?)
Ausserdem besuchen die Brüder nun regelmässig den Salon der Prinzessin Mathilde. Der Kreis der Leute, die sich dort treffen ist dem der skeptischen Gesellschaft ähnlich, wenn auch nicht identisch. Im Salon werden mehr als in der skeptischen Gesellschaft auch Kunstwerke betrachtet und diskutiert.
Neben allen gesellschaftlichen Verpflichtungen finden die Brüder noch Zeit, einen Roman (Sœur Philomène) zu veröffentlichen, für den sie einen Tag lang die Assistenzärzte eines Spitals auf ihren Visiten begleitet haben. Man versteht, warum sie als Gründerväter des Naturalismus dastehen – m.W. gab es diese Art von Feldstudien vorher nicht; selbst Flaubert entnahm das Wissen für seine Romane nur Büchern.
Last but not least starb 1862 Rose Malingre. Sie war das langjährige Hausmädchen gewesen, eine Art zweite Mutter für die Brüder. Die Szenen, wie sie Jules ins Sterbe-Hospiz bringt und dort von ihr Abschied nimmt, im Geheimen immer noch hoffend, sie werde sich wieder erholen, gehören zu den berührendsten, die ich bisher gelesen habe. Jules Reaktion bei ihrem Tod, sein Widerwille, die Tote noch einmal zu sehen, um sie zu identifizieren, die Schilderung auch der körperlichen Reaktionen seiner Trauer: ebenso. Wie sehr müssen die beiden Brüder aus dem Himmel gefallen sein, als ihnen am Tag nach Rose‘ Tod ihre Geliebte (sie hatten zusammen nur eine!) erzählte, dass ebendiese Rose sie seit Jahren betrogen und ihnen nicht wenig Geld aus dem Portemonnaie geklaut hatte, um damit ihre Liebhaber zu finanzieren. Dieser Coup hätte aus einem Roman stammen können – tatsächlich war es nun umgekehrt, und die Brüder verarbeiteten die Geschichte später in ihrem Werk Germinie Lacerteux.
Im übrigen will ich hier nicht einzelne Bonmots aus den Tagebüchern wiedergeben – es gibt deren ein paar, aber die meisten machen nur Sinn, wenn sie im Zusammenhang mit der oft zynischen Schilderung der Freunde und Feinde von Jules und Edmond gelesen werden. Denn auch das sind diese Tagebücher im Verlaufe der ersten 1860er Jahre geworden: Ein zusammenhängendes Kunstwerk eigener Prägung.
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