Hacking, Musgrave, Realismus-Antirealismus und die Frage nach dem Primat von Theorie und Praxis

Fortsetzung aus dem Forum: Der zweite Teil, insbesondere das letzte Drittel des Buches hat mir weniger gut gefallen. Hacking erging sich in teilweise technischen Details (den Mikroskopaufbau bzw. eine „Elektronenkanone“ (PEGGY I und PEGGY II) betreffend), die selbst, wenn sie verständlicher gehalten worden wären, dem Gedankengang kaum etwas Neues hinzugefügt hätten. Interessant ist diesbezüglich meine Zweitlektüre (Musgraves „Weltliche Predigten“), da dort – ausgehend von Popper – das Hohelied des Primates der Theorie gesungen wird, während Hacking zu beweisen sucht, dass häufig Experimente am Anfang einer Entwicklung stehen (sehr gut gefiel mir die Widerlegung von Lakatos‘ unzähligen historischen Fehlern, die einmal mehr bewiesen, dass gerade die historisch-soziologische Aufbereitung der Wissenschaftstheorie sehr stark von der Absicht des Schreibenden beeinflusst wird).Ich bin der festen Überzeugung, dass sich in der Geschichte der Wissenschaft unzählige Beispiele für beide Varianten wissenschaftlicher Erkenntnis erbringen lassen. Wenn Pascal den Puy de Dome erstieg mit seinen Quecksilberröhrchen, um die von ihm prognostizierte Druckverringerung in großer Höhe zu beweisen, so geht diesem Handeln selbstredend eine Theorie voraus (einer, der sein Quecksilber einfach so spazierenträgt wäre wohl zurecht des Irrsinns geziehen worden); zugleich aber werden in der Biologie oder theoretischen Physik eine Unzahl von Daten gesammelt, anhand derer – post festum – man Regelmäßigkeiten zu erkennen sucht, die man „theoretisch“ zu interpretieren unternimmt. Die Puristen der einen wie auch der anderen Seite sind mit Sicherheit im Unrecht, dazu reicht ein Blick in die Geschichte (auch Ptolemäus hat seine Theorien aufgrund der ihm zahlreich zur Verfügung stehenden Daten entworfen – und nicht bereits zuvor im Kopf gehabt).

Im Grunde gibt es hier eine ganz triviale Wechselwirkung: Es gibt Theorien und Daten, diese beeinflussen jene – und vice versa. Beide Ansätze sind „rationalistisch“ und, dies wird häufig vernachlässigt, darf es vor allem in der Heuristik keine Beschränkungen geben: Die Frage, wie wir zu unseren Ideen und Einfällen kommen, lässt sich weder für die Wissenschaft noch für Kunst in ein formales Schema pressen. Im übrigen würde ich den Wissenschaftler wie auch den Künstler bezüglich Kreativität in eins setzen: Beide bedürfen eines Kopfes, der auch Ungewöhnliches zu denken imstande ist – und beide müssen für die Umsetzung dieser Ideen sehr viel Fleiß, Nachdenken und Disziplin aufwenden. Soll heißen: So wenig der große Künstler ständig ideenschwanger in den Vollmond starrt und die Küsse der Muse empfängt, sondern die meiste Zeit an der Staffel, am Schreibtisch mit unzähligen Entwürfen und Konzepten verbringt, genau so wenig ist ein Wissenschaftler brauchbar, der nicht viel mehr als eine logisch-mathematische Entität vorstellt. (Solche Entitäten gibt es nämlich schon – und sie sind dem Menschen weit überlegen: Gemeinhin Computer genannt). Wissenschaftler ohne Kreativität sind mit Sicherheit unbrauchbar.

Ein letztes zum Realismus-Antirealismus-Problem, dessen sich Hacking annimmt: Ich kann seine Einstellung nachvollziehen, dass dort, wo kausale Wirkungen beobachtet werden können, man (er) auch den Schluss auf „reale“ Entitäten zu ziehen sich berechtigt sieht. Allerdings ist auch das häufig eine Frage der Interpretation: Lange Zeit glaubte man die Wirkungsweisen des Kalorikums nachweisen zu können – und dennoch war da nichts, was gewirkt haben könnte. Auch diese Realismusdebatte betreffend sind wir auf – poppersche – Vermutungen und Widerlegungen angewiesen: Mittelbar wirksame Teilchen als reale Entitäten zu betrachten scheint sinnvoll, solange ihr Nichtvorhandensein nicht plötzlich sehr wahrscheinlich wird bzw. eine andere Theorie eine sehr viel bessere Erklärungskraft besitzt. Mich überzeugt nicht einmal wirklich der Vergleich von postuliertem Teilchen und den gern dazu in Gegensatz gesetzten, vor mir befindlichen Schreibtisch: Denn der Physiker wird mir einen Schreibtisch beschreiben, der weitgehen aus „nichts“ besteht, aus Energie, Wechselwirkungen, Elektronenwolken etc. Was er da beschreibt stellt sich für meinen Hausverstand als mindestens so lächerlich dar wie der Glaube an den Osterhasen oder die Dreifaltigkeit. Dennoch „glaube“ ich dem Physiker (in Maßen) und nicht der Verkündigung des österlichen Karnickels – einfach deshalb, weil ich viele der physikalischen Argumente – bis zu einem bestimmten Komplexitätsgrad – nachvollziehen kann. Aber wenn ich an der Realität von Teilchen zweifle, die meinen Tisch – vorgeblich – konstituieren: Wie kann ich dann an den Tisch glauben?

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