Jacques Le Goff: Die Geburt des Fegefeuers

Eine religions- und kulturhistorische Studie vom Allerfeinsten. Le Goff zeichnet die Entwicklung des „dritten Ortes“ nach – von seinen ersten Anklängen im Frühchristentum bis zu seiner endgültigen Etablierung im 12. bzw. 13 Jahrhundert. Diese Etablierung des Fegefeuers war keine bloße Fußnote der Dogmengeschichte, sondern hatte höchst bedeutende sozial- und religionspolitische Konsequenzen. So entzündete sich ein fortgesetzter Streit um dieses Purgatorium zwischen den Ostchristen und den Papsttum, auch die meisten häretischen Srömungen lehnten diesen Zwischenort ab: Sie sahen hierfür in der Bibel kaum Belege.

Worum ging es konkret? Nachdem die Erwartung des baldigen Weltendes immer wieder enttäuscht wurde und auch das chiliastische Konzept nicht wirklich aufgehen wollte, stellte sich die Frage, was denn mit den Seelen im Zeitraum nach dem Tod und vor dem Jüngsten Gericht geschehen soll. Während die Heiligen sofort ins Paradies kommen, die mit Todsünden Befleckten in die Hölle, stellte sich mehr und mehr die Frage nach dem Aufenhalt der „gemeinen Seele“, die sich weder in die eine noch in die andere Kategorie einordnen ließ. Zwar gibt es viele Wohnungen im Hause des Vaters, aber der Wartesaal schien nach so vielen Jahren vergeblicher Hoffnungen auf die Wiederkunft Christi einigermaßen überfüllt, sodass schon bei Augustinus erstmals Anklänge einer Art Reinigung dieser Seelen erwähnt werden (und in einem so umfangreichen Werk wie der Bibel wird man mit ein wenig Spitzfindigkeit allemal fündig: Wenngleich man dabei Vorsicht walten lassen sollte, wie denn etwa die Schriften des Origenes zu dieem Thema hochoffiziell verbrannt wurden). Dazu gesellte sich im Laufe der Zeit die umfangreiche Literatur der Jenseitsfahrten, von denen Gläubige zu berichten wussten und die – beginnend mit Gregor dem Großen – immer mehr Einfluss gewannen. Vor allem entzündete sich ein Streit um die sehr pragmatische, machtpolitische Frage, wie denn diesen armen Seelen im Fegefeuer zu helfen wäre: Und die katholische Fürbittenidee stellte sich als ein hervorragendes Geschäftsmodell dar.

So kam man zum einen ins Fegefeuer, wenn man zwar kurz vor dem Tod noch beichtete, die auferlegt Buße in diesem Leben aber nicht mehr getan werden konnte. (Und es entstand das buchhalterische Jenseits, die große Auflistung der lässlichen Sünden unter den verschiedensten Voraussetzungen, die allesamt eine „gerechte“ Buße erforderten: Der scholastischen Spitzfindigkeit war alsbald keine Grenze gesetzt.) Um nun einen Strafnachlass für die im Fegefeuer Schmachtenden zu bewirken, waren das Gebet oder gute Werke geeignet, nichts war aber besser – so die kirchliche Hierarchie – als heilige, für die entsprechende Person gelesene Messen (wobei sich die Kirche diesen Akt der Hilfeleistung selbstredend bezahlen ließ: So weit war es denn doch wieder nicht her mit der Nächstenliebe). Neben den finanziellen Interessen (die sich erst im Laufe der Zeit herauskristallisiert haben) war die Institution dieses Zwischenreiches ein enormer, geistlicher Machtzuwachs: Hatte man doch auf diese Weise sogar die Macht über die Toten gewonnen – und konnte die lebenden Angehörigen in die Pflicht nehmen.

Damit einher geht auch die Auflösung des dualistischen Prinzips: Nun wird nicht mehr in Gut und Böse, in Heilige und Verdammte geschieden, sondern das allgemein Menschliche berücksichtigt: Die nicht ganz Guten, die nicht ganz Bösen. Um aber die Gläubigen trotzdem durch die Furcht zu binden, fand eine sukzessive Infernalisierung des Fegefeuers statt, immer wieder wird (nach Augustinus) darauf hingewiesen, dass die Qualen im Fegefeuer die schlimmsten Qualen in diesem Leben um ein Vielfaches übertreffen würden. Wobei die Kirche für die Glaubwürdigkeit dieser ihrer Aussagen zu sorgen wusste: Nach Einführung des Purgatoriums nahm die Zahl derer, die den Lebenden erschienen und ihnen von ihren Erfahrungen berichteten, schlagartig zu; selbstredend wurde auch die Wirkung von gelesenen Messen oder Gebeten bestätigt.

Le Goff stellt dies alles mit ungeheurer Sachkenntnis (und ohne jede Polemik, der ich mich in solchen Fälllen nur schwer enthalten kann) dar, er analysiert die sprachliche Entwicklung des Wortes „purgatorium“ (um aufgrund dessen zu einer recht genauen Datierung für die Etablierung des Fegefeuers zu kommen), beschreibt sowohl die Haltung der Gelehrten als auch die des einfachen Volkes gegenüber dieser Neuerung und geht auf die Wechselwirkung von Theologen- und Volksglauben ein. Eine mehr als spannende kulturgeschichtliche Abhandlung, äußerst lesenswert (wobei ich nicht weiß, ob die Forschung zu diesem Thema in den letzten 30 Jahren Erkenntnisse gewonnen hat, die das vorliegende Buch in Teilen veraltet erscheinen lassen: Ich vermute aber nicht …).

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