Der Herr Lehmann (diese Bezeichnung wird auf einen Scherz seiner Freunde zurückgeführt, die wegen seines 30. Geburtstages damit auf das Altehrwürdige seines Alters hinweisen wollen) ist vor 10 Jahren von Bremen nach Berlin gekommen und hat seither in verschiedenen Kneipen hinter dem Tresen gearbeitet. Im Unterschied zu seinen Freunden steht ihm nicht der Sinn nach Höherem, er macht keine „Objektkunst“ wie sein Freund Karl, träumt auch nicht von einem Studium, einer Selbstverwirklichung. Sondern ist mit seinem Leben im Grunde zufrieden, auch deshalb, weil seine Umgebung ihm die Fragwürdigkeit großer Ziele vorlebt.
Die Handlung spielt in den letzten zwei Monaten vor der Wende, dem Mauerfall, doch von dieser Umbruchstimmung ist im Roman kaum etwas zu spüren. (Im Gegenteil – über die Öffnung der Grenze wird im letzten Kapitel nonchalant hinweggegangen, von Herrn Lehmann wird es mit einem „Ach du Scheiße“ kommentiert, „aber es gab keine große Aufregung, alle machten weiter wie bisher“.) Sehr viel genauer aber ist die Stimmung dieser jungen Leute eingefangen, ihrer kleinen und großen Kümmernisse; es gibt großartige, völlig sinnbefreite Dialoge des Kneipenstammpublikums, einen herrlich skurrilen Besuch der Eltern Franks (Herrn Lehmanns), die erstmals nach Westberlin kommen und alle Vorurteile bestätigt sehen, wobei allerdings Franks Vater ihn mit Einsichten überrascht, die er ihm so nicht zugetraut hätte („ich muss ihn unterschätzt haben“) und schließlich die Schilderung des Zusammenbruchs seines Freundes Karl (des Objektkünstlers), dem die Fragwürdigkeit seiner Existenz durch die Möglichkeit zu einer Ausstellung bewusst wird und der darüber seinen Verstand verliert (auch dieses sukzessive Abgleiten Karls in eine irreale Welt wird mit sehr viel Feingefühl, Gespür für die Situation beschrieben).
Viel Humor, ohne platt zu wirken, Skurriles, ohne zu übertreiben (wozu ohnehin keine Notwendigkeit besteht, da die Realität davon ausreichend zur Verfügung stellt), Trauriges ohne Sentimentalität: Ich habe selten ein Buch gelesen, dem es ähnlich gut gelungen wäre, die Kneipenatmosphäre von latenter Betrunkenheit, rauchgeschwängerter Müdigkeit und sinnlosem Gerede (das aber enorm viel über die Sprecher aussagt) einzufangen. Sollte man lesen.
Sven Regener: Herr Lehmann. Berlin: Eichborn 2001.