Und das Buch liest sich teilweise spannend wie ein Roman (obschon man dessen Ausgang nur zu genau kennt): Gerade deswegen entsteht im Lesen zunehmendes Unverständnis über das Verhalten von Hitlers Umgebung, seiner Konkurrenten, selbst seiner Mitkämpfer oder Teilen der Wehrmacht (die den geplanten großen Krieg keineswegs mit Enthusiasmus unterstützten). Es ist die Dokumentation einer Tragödie, die immer und immer wieder noch verhinderbar erschien, die (ohne die Deutschen von ihrer Mitschuld freizusprechen) im Grunde von einer einzelnen Person inszeniert wurde, einer Person, deren Aufstieg und schließliche Machtfülle (trotz der umfänglichen Darstellungen, die Hitler gewidmet wurden, auch dieses Buch hat weit über 1000 Seiten) zu einem Gutteil unverständlich bleibt.
Ein Zivilversager und Tunichtgut, der im Ersten Weltkrieg als kleiner Gefreiter und Meldeläufer erstmals so etwas wie Gemeinschaft erlebt, der gerade deshalb die Kapitulation als ein ganz persönliches Schicksal empfindet, die jene Sinngebung beendet, der er in diesem Krieg teilhaftig geworden ist. Er teilt dieses Schicksal mit zahlreichen anderen Soldaten (noch viele Jahre nach 1918 gab es marodierende Banden ehemaliger Kriegsteilnehmer, die das Ende des Kämpfens nicht zu akzeptieren gewillt waren) und er setzt all seine Bemühungen dafür ein, die Entlassung vom Militär hinauszuzögern, weil es diese Struktur war, die ihm Sinn zu vermitteln verstand, den er im Zivlleben vergeblich gesucht hat. So wird er – zufällig – für propagandistische Aktionen ausgewählt, erfährt in einer kleinen Gruppe Zustimmung (wobei er immer um bloße Zuhörer, um Mitläufer bemüht war, die seine Monologe ohne Widerspruch aufnahmen) und vermag mit diesen kleinen Erfolgen seine Unsicherheit, sein Gefühl der Minderwertigkeit erfolgreich zu kompensieren. Immer aber bleibt der Kontakt semi-offiziell, zu tieferen Freundschaften bleibt er zeitlebens unfähig, da diese auch empathische Fähigkeiten verlangen, Zuhören, differenziertes Diskutieren, das sich nicht in primitiven Schwarz-Weiß-Schemata erschöpft.
Wie kann jemand mit derartigen charakterlichen Defiziten, überall nur Halb- und Viertelbildung besitzend, weitgehend ohne Geist und Esprit, eine derartige Position, eine solche Machtfülle erlangen? Es bleibt auch bei genauer Analyse unverständlich, wenn man nicht zahlreiche Zufälle berücksichtigt, unzählige Weichenstellungen, die – zum Unglück der Welt – genau so und nicht anders erfolgt sind. Hitler selbst präsentierte sich (später) stets als von der Vorsehung gesandt, als jemand, dessen ganzes Leben genau so verlaufen musste (vom Ende abgesehen), wie es denn verlaufen ist. Aber nichts wäre falscher, Longerich zeigt an zahlreichen Wendepunkten, dass dieser Adolf Hitler auch ein verkrachter Bohemien hätte bleiben können, einer jener vielen, die sich im kleinen Kreis als profunde Kenner der Weltpolitik gerieren, die aber kaum jemand ernst nimmt und im nirgendwo verschwinden wie die zahlreichen Verschwörungstheoretiker des Internet-Zeitalters.
Wobei er sich selbst noch länger nicht als „der Führer“ der deutschen Nation betrachtet hat, sondern sich vielmehr nach einem solchen sehnte. Dass er selbst dazu ausersehen sei, wurde ihm erst durch die zufälligen Erfolge retrospektiv bewusst. Und erst über diesen Erfolgen (ob es die Machtübernahme in Deutschland, die Annektion Österreichs oder die Nachgiebigkeit der westlichen Demokratien waren) glaubte er an sein Sendungsbewusstsein, erst nach dem Einmarsch in Wien (der wider Erwarten erfolgreich und problemlos vonstatten ging) zielte er in realiter auf jene Eroberung von Lebensraum ab, die ansonsten vielleicht eine Fußnote der Geschichte eines wirren Politdummkopfes geblieben wäre. Und immer noch steht hinter dem erfolgreichen Politiker (etwa von 1938) eine unsichere, narzisstische Person, die sich vor nichts mehr fürchtet, als lächerlich gemacht zu werden, das Gesicht zu verlieren (die Assoziation zu ebenfalls kindisch-beleidigten Reaktionen des regierenden amerikanischen Präsidenten drängt sich auf: Nichts schlimmer, als in seinem mickrigen Ego beleidigt zu werden).
Diese Persönlichkeitsstrukturen bleiben konstituierend bis zum Ende: Seine Kämpfe mit dem Generalstab während des Krieges, seine manchmal absurden Entscheidungen, die jeder militärischen Logik widersprechen, sind Teil eines sehr viel größeren, megalomanen Konzeptes, das selbst den Untergang noch inszeniert, als letzten, großen Teil eines Welttheaters, das in seiner Tragik auch die obskure Hoffnung auf eine Götterdämmerung beinhaltet. Die Militärs denken pragmatisch, manchmal sogar human, sie denken an den Soldaten an der Front, an sein Leiden, an das auch in der Niederlage noch Mögliche. (Genau das, was zum Ende des Ersten Weltkrieges geführt hatte: Stellungen so gut als möglich halten und auf politische Optionen hoffen, die eine totale Zerstörung hintanhalten sollen.) Das allerdings war Hitlers Alptraum, es war jene Dolchstoßlegende, die er sein Leben lang gepflegt hatte und die er in „seinem“ Krieg mit aller Macht zu verhindern suchte. Deshalb auch die Dichotomie von Sieg oder Untergang, eine Wagnersche Oper mit all ihren Peripetien und ihrer Tragik, die abzumildern dem Schicksal, der Vorsehung widerspricht. Während der pubertierende Hitler in seinem Zimmer Linz (und später Wien) architektonisch neu erschuf, seine Bauphantasien frönte, war er – und das bleibt das Unverständliche und Paradoxe – später in der Lage, diese seine Wahn-Vorstellungen (teilweise) umzusetzen und die Welt in einen Abgrund zu stürzen.
Wie ein solch mediokrer Wichtigtuer es zum Diktator und Beherrscher Deutschlands, später fast ganz Europas bringen konnte, vermag auch Longerich nicht zu erklären. Zu groß ist die Diskrepanz zwischen dem mäßig begabten Postkartenmaler mit adoleszenten Träumereien vom großen Erfolg und seiner späteren politischen Karriere, sodass man dem nicht wirklich befriedigenden, aber möglicherweise dennoch zutreffenden Ansatz einer kontingenten Geschichte vielleicht doch zustimmen muss. Immer wieder sind es diese Zufälligkeiten, die einen frühzeitigen und endgültigen Misserfolg verhindern, eine Wirtschaftskrise zur rechten Zeit, die Unfähigkeit und Hilflosigkeit anderer Politiker, später dann die zahlreichen misslungenen Anschläge, die diesem Wahnsinn hätten ein Ende machen können. Und natürlich ein gewisses Gespür für das Sagbare, Machbare in einer bestimmten Zeit, ein Gespür auch für Stimmungen in der Bevölkerung, die zu einer bestimmten Zeit einen ganz bestimmten Unsinn zu goutieren scheint (auch dies lässt sich wieder mit dem amtierenden US-Präsidenten zu verbinden, wobei diesem für die Durchsetzung seines Irrsinns eine Verfassung entgegensteht, die sehr viel höher geachtet wird als jene der Weimarer Republik). Aber es bleibt ein wenig Verwunderung zurück (eine Verwunderung, die ich hingegen auch angesichts so mancher rezenter Wahlergebnisse nicht verhehlen kann), ein Staunen darüber, dass der Weltgeist ganz offenbar eine intellektuell bescheidene Ausstattung sein eigen nennt.
Das Buch liest sich trotz seines Umfanges schnell und flüssig, es verfolgt eine sehr viel pragmatischere Linie als vergleichbare Biographien (die ihm gleichzeitig zu seinem Vorteil und Nachteil ausschlägt). Gerade während der Kriegsjahre konzentriert sich Longerich allzusehr auf das militärisch-politische Geschehen und zu wenig darauf, wie denn die Person Hitler die Ereignisse aufnimmt. Wirklich Neues aber erwartet man vergebens – was, wie schon erwähnt, nicht unbedingt als Negativum anzusehen sein muss. Allerdings stellt sich dann die Frage, warum man es denn lesen sollte? Für denjenigen, der mit der Person Hitlers als auch mit dem Nationalsozialismus einigermaßen vertraut ist, ist dieser Wälzer keine Pflichtlektüre: Als ein faktenorientierter Überblick ist es hingegen durchaus empfehlenswert.
Peter Longerich: Hitler. München: Siedler 2015.
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