Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers

Scherenschnitte eines Männerkopfs (links) und eines Frauenkopfs (rechts), frisiert im Stil der Goethe-Zeit. Die beiden Gestalten schauen einander an. Man sieht im Ausschnitt aus dem Buchcover nur die Stirn und die Frisur.

Gelesen in der ersten Fassung von 1774 – deshalb auch noch das Genitiv-s am Schluss des Namens. Nach dem Schauspiel Götz von Berlichingen von 1773, das im ganzen deutschen Sprachraum Furore machte, war dies der zweite Großerfolg des jungen Autors Johann Wolfgang Goethe. Ja, der Erfolg des Werther übertraf jenen des Götz bei weitem – denn mit ihm wurde der junge Frankfurter Autor nicht nur europa- sondern gar weltweit zu einer Berühmtheit. Er sollte zu Lebzeiten nie mehr einen solchen Triumph einfahren können. Goethe hat das Werk später für seine erste Werkausgabe (sechs Bände bei Göschen) im Jahr 1787 überarbeitet. Dieser Überarbeitung fiel nicht nur das Genitiv-s im Titel zum Opfer, Goethe eliminierte auch sonst ein paar Regionalismen und nahm Änderungen vor bei der Darstellung von Albert und Lotte, wo vor allem ersterer in der Fassung von 1774 doch als ziemlicher Pflock geschildert wurde – sehr zum Missvergnügen der beiden Vorbilder der Figuren, Charlotte Buff und Johann Christian Keastner.

Denn als Schlüsselroman (bzw., wie man heute sagen würde, als Autofiktion) gelesen wurde der kleine Roman sehr rasch. Nun hat Goethe selber einmal sinngemäß gesagt, dass bei einem Autor alles irgendwie Autobiografie sei, und für ihn selber gilt diese Aussage in hohem Maß. Im Falle der Leiden des jungen Werthers betonte Goethe die autofiktionalen Züge des Romans noch, indem er selber lange in der ‚Werther-Uniform‘ (blauer Frack mit Messingknöpfen, gelbe Weste, braune Stulpenstiefel und runder Filzhut ) herumlief. Dennoch sollte man ob der mit blinden Händen zu greifenden Parallelen zwischen Charlotte Buff und Werthers Lotte, zwischen Werther selber und seinem Autor, nicht darauf verfallen, in diesem Roman nur eine seltsame Methode seines Autors zu sehen, sich von einer unmöglichen Liebe (nämlich zu Charlotte Buff) oder gar von eventuellen Selbstmord-Gedanken zu lösen. Goethe spielte noch im hohen Alter mit dieser autofiktionalen Lesart, wenn er zu Johann Peter Eckermann meinte, er habe den Roman seit der Überarbeitung kein weiteres Mal mehr gelesen, weil zu viele Brandraketen für ihn darin stecken würden. Bei aller Liebe zu Goethe und zu den Mythen, mit denen er die Entstehung seiner Werke nur allzu gern zu verzieren pflegte: Für eine rein psychohygienische Maßnahme ist der Roman, selbst wenn er in nur sechs Wochen geschrieben wurde, viel zu genau komponiert.

Als erstes fallen die Übereinstimmungen auf, die die Jahreszeiten nicht nur zu Werthers Liebe für Lotte aufweisen (erstes Kennenlernen im Frühling, Aufblühen im Sommer, Verwelken bzw. Absterben im Herbst), sondern auch mit Werthers Gefühlslage im Allgemeinen. Im Frühling liegt er im Gras und genießt die Natur in einem Ausmaß, das einem Verschmelzen des Mannes mit der Natur gleichkommt, einem nahezu mystischen Erlebnis, in dem Werther seinem Gott sehr nahe tritt. Den Sommer verbringt er dann gedankenlos um Lotte und im Herbst, wo er die Ernte in Form eines regulären Jobs einbringen sollte, beginnt es draußen zu regnen und stürmen – und nun geht auch seine Laune auf den Nullpunkt. Parallel zu den Jahreszeiten ändert sich auch Werthers Lektüre. Zu Beginn ist es Homer, den er überall hin mitschleppt – der glänzende Frühling der antiken Literatur. Dann tauchen Klopstock auf, und Lavater – der Sommer der aktuellen Literatur. Zum Schluss, in einem furiosen und halb wahnsinnigen Ende zwischen ihm und Lotte ist es Ossian, der gleich seitenlang zitiert wird – der Herbst. Zugleich ist Homer der geografische warme Süden, Klopstock und Lavater die heiße und manchmal mit Gewittern versetzte (europäische) Mitte, Ossian der kalte, von wütenden Stürmen durchzogene Norden. Und Werthers letzte Lektüre ist Lessings Emilia Galotti – der Winter, der Tod. (Wenn, nebenbei, der alte Goethe – ich glaube, es war auch zu Eckermann – sich einmal dahingehend geäußert hat, er bereue es mittlerweile, die Kritik am ständischen Wesen in den Werther eingemischt zu haben, so spricht hier nicht nur einer, der unterdessen auf die andere Seite gewechselt hat, vom Bürger zum Adligen geworden ist, sondern auch einer, der nicht mehr auf Karriere oder auch nur Beruf achten musste. Und einer, dem sein eigenes Werk und dessen Kompositionsmerkmale fremd geworden waren.)

Unbedingt zu erwähnen ist die Sprache des Romans. Mit einer einzigen Ausnahme (dem Märchen, das Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten so überraschend und völlig nicht zum Übrigen passend beendet) ist es Goethe in keinem anderen seiner Prosa-Werke gelungen, zu einer Sprache zu finden, die so geschmeidig und verführerisch klingt, dass man als lesende Person nachgerade in den Roman gesogen wird. Auch in Wilhelm Meisters Lehrjahren, dem von den Jenaer Romantikern wohl mehr aus literaturpolitischen denn kritischen Gründen so über den grünen Klee gelobten Roman, kann sich Goethe nicht von einer umständlichen und langweiligen Prosa lösen, die sehr an die Anwaltskanzlei und die Amtstuben erinnert, in denen Goethe sich jahrzehntelang aufhalten musste. Und wenn er später, in seiner ‚klassischen‘ Zeit, dazu überging, auch in seinen Dramen die Figuren nicht mehr in Prosa sondern in Versen sprechen zu lassen, so hat das bei ihm wohl nicht nur die literaturtheoretische Begründung in dem Zurück-zu-den-Wurzeln (der klassischen griechischen Tragödie), die es bei Schiller hatte, sondern auch im Umstand, dass erst der Zwang zum Vers seiner Sprache einige Geschmeidigkeit geben konnte. Hier im Werther aber: welche Sprache, welch ein Genuss!

Last but not least: Es war, glaube ich Arno Schmidt, der dem Roman Die Leiden des jungen Werthers vorwarf, gar kein echter Briefroman zu sein, weil nur Briefe von Werther und keine an ihn darin figurieren, dazu noch sämtliche Briefe Werthers an ein und denselben Wilhelm gerichtet sind, von dem wir sonst so gar nichts erfahren. Letzteres stimmt; und auch, dass hier nur einer Briefe schreibt, ist korrekt, beweist aber gar nichts. Vor allem übergeht diese Sichtweise die nicht unwichtige Rolle, die der (ebenfalls namenlos bleibende) Herausgeber spielt. Nicht nur, dass er Authentizität des Geschehens suggeriert, während in Wahrheit auch er eine Figur Goethes ist. Er greift auch immer einmal wieder ins Geschehen, in den Text ein. So macht er früh in einer Fußnote klar, dass der Ort Wahlheim ‚in Wirklichkeit‘ natürlich anders heißt, eine andere Fußnote suggeriert Auslassungen / Eingriffe, wenn es darum geht, dass Werther sich abfällig über lebende deutsche Autoren geäußert haben soll und er, der Herausgeber keine Klagen riskieren will – und zum Schluss greift er gar als Erzähler in den Text ein, denn das Ende Werthers kann Goethe nun nicht rein aus dessen Briefen schildern. Wenn der Roman autofiktional sein soll: An wen hat Goethe bei Wilhelm gedacht, oder beim Herausgeber? Der (echte!) Herausgeber meiner Ausgabe, Ernst Beutler (der im Übrigen jede autofiktionale Lektüre des Romans jenseits der nicht zu leugnenden Parallelen zwischen Albert / Lotte und Kestner / Charlotte Buff zurückweist), schlägt (unter anderen) als mögliches Teilvorbild für Wilhelm den damaligen Freund Merck vor. Für den Herausgeber macht er keine Vorschläge.

Nein, eine Lektüre als Schlüsselroman läuft – jenseits einer Lotte-Verehrung, wie sie Thomas Mann in seinem Roman Lotte in Weimar karikiert hat – ins Leere. Zum Glück für uns, denn wenn es anders wäre, wäre der Roman bei aller sprachlichen Schönheit doch nur eines – langweilig. Und das ist er ganz bestimmt nicht.


Meine Ausgabe ist Band 4 des unveränderten Nachdrucks der Artemis-Gedenkausgabe zu Goethes 200. Geburtstag 1949, herausgegeben von Ernst Beutler unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter, 2. Auflage Zürich 1961-1966. Darin die Seiten 268-381.

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