Im letzten Band der Auswahl aus Leonardo da Vincis Notizbüchern wird uns der Künstler und auch ein bisschen der Mensch da Vinci präsentiert.
Die Vorstellung des Menschen erfolgt, indem wir – ganz am Ende – Entwürfe zu Briefen finden und andere persönliche Notizen. Es wird allerdings selten privat; eher ist es der Geschäftsmann Leonardo, der vor uns steht. Aber es werden Erbstreitigkeiten mit seinen Brüdern erwähnt. Vor den Briefen – weil ich nun schon einmal ganz hinten angefangen habe – ist der ‚Schriftsteller‘ da Vinci zu finden. Von dessen Existenz wusste ich, offen gesagt, bisher nichts. Das liegt wohl daran, dass da Vinci seine Entwürfe nicht veröffentlicht hat. Es handelt sich auch weder um Dramen noch um Gedichte oder große Romane, die wir hier finden. Es sind vielmehr kleine, manchmal im Druck der Notizbücher nur eine oder zwei Zeilen umfassende Aperçus – Erzählungen, die irgendwo zwischen Märchen und heutiger Fantasy anzusiedeln sind, Fabeln (einigermaßen bemüht und von platt-aufklärerischer Nutzanwendung), ein paar Scherze, Gleichnisse und Allegorien (letztere aufgeteilt in Bestiary – Tiergleichnisse, eigentliche Allegorien und Prophecies, Prophezeiungen). Dutzendware, wie sie zu jener Zeit wohl des öfteren zum Zeitvertreib verfasst wurde – was auch erklärt, warum mir diese Seite da Vincis bisher unbekannt geblieben war.
Auch zur Musik finden wir etwas – knappe zwei Seiten. Die beschäftigen sich allerdings weniger mit Musik als solcher, sondern meistens mit der Möglichkeit, eine Art wasserbetriebene Orgel zu bauen – ein Instrument, bei dem Wasserkraft die harte Arbeit des Luft-Pumpens erledigen sollte. Wassermusik vor Händel, sozusagen.
Der wichtige Teil der Notizen, und der nimmt die erste Hälfte des dritten Bandes ein, beschäftigt sich mit Malerei, Bildhauerei und Architektur. Die Notizen zur Architektur erreichen nirgends die Ausführlichkeit oder das Niveau eines Vitruv oder eines Palladio. Einige davon behandeln auch nur die Konstruktion von Stadtgräben und -mauern, um möglichst sicher vor Feinden zu sein, und hätten gerade so gut in die kriegstechnische Abteilung von Band II gepasst. Aber ein oder zwei Mal fasst da Vinci auch Städteplanung ins Auge.
Die Bildhauerei betreffend finden wir vor allem Ausführungen zum Gießen von Bronze-Plastiken – technische Tipps. Ebenfalls technische Tipps, aber viel ausführlicher, bei der Malerei. Neben der Herstellung verschiedener Farben (es gab damals noch keine Fachgeschäfte für Maler, jeder musste die Ingredienzien seiner Farben selber zusammen stellen, selber mischen und reiben!) ist es vor allem die Perspektive in der Landschaftsmalerei, die Leonardo beschäftigt. Er kennt die Luftperspektive wie die lineare Perspektive und verfasst – offenbar schlussendlich für ein Lehrbuch gedacht – kleine Abhandlungen über deren richtigen Einsatz. Light and Shade, Licht und Schatten, haben deshalb auch ein eigenes, ziemlich gross geratenes Kapitel erhalten. Viele der hier von Leonardo vorgestellten Phänomene wird später Goethe in seiner Farbenlehre wieder aufgreifen. Für den Portrait-Maler versucht da Vinci eine Klassifikation verschiedener Formen von Nasen zu geben. Er kommt auf 10 Klassen – nicht ohne Warnung allerdings, dass jedes Gesicht (und somit jede Nase) doch wieder individuell ist.
Somit sind wir nun zwanglos am Beginn dieses Bands angekommen, wo Leonardo da Vinci noch versucht, einzelne Künste miteinander zu vergleichen. Als Einleitung in einen Band mit Ausführungen zu den Künsten natürlich sehr gelungen; in sich selber bringt uns da Vinci keine Erkenntnisse, die nicht seine Zeit und die Zeiten vor ihm schon gehabt hätten.
Alles in allem dennoch eine wichtige und notwendige Ergänzung zum Forscher und Ingenieur da Vinci der ersten beiden Bände, auch wenn der Poet in da Vinci nicht dessen stärkste Seite war.