Tiptree selber hat für dieses Buch drei vorher unabhängig voneinander entstandene und auch publizierte Kurzgeschichten zusammen gestellt, die allerdings alle im selben Universum spielen. Das geschah, indem eine weitere Erzählung als Klammer, als eine Art Rahmenhandlung, hinzugefügt wurde. So haben wir in Sternengraben vier Kurzgeschichten vor uns:
Universität Deneb, Große Zentralbibliothek (1986) [In the Gread Central Library of Deneb University]
Die Rahmenerzählung in vier Teilen: Einleitung, zwei Überleitungen und ein Schluss, der zugleich den Abschluss des ganzen Buchs darstellt. Bemerkenswert an dieser Rahmenerzählung ist vor allem, dass keine Menschen darin vorkommen, jedenfalls nicht als agierende Wesen.
Für ihre Abschlussarbeit suchen zwei Aliens, die offenbar ein Paar bilden, nach Dokudramen aus der Zeit der Eroberung des Sternengrabens. Unter Dokudrama müssen wir uns wohl so etwas wie eine Mischung aus Hörbuch und Papierbuch vorstellen. Moa Blau, der stellvertretende Leiter der Bibliothek, hat eine romantische Ader (obwohl einer Spezies von Amphibienwesen zugehörend) und die so offensichtlich aufkeimende Liebe zwischen den beiden Jungforschern verführt ihn dazu, ihnen drei ganz spezielle Dokudramen heraus zu suchen. Diese drei stellen dann die eigentlichen Stories dar, die Tiptree erzählt.
Ansonsten geschieht in dieser Rahmenerzählung nichts. Dem Leser interessant ist sie einzig durch Tiptrees grosse Phantasie in der Erfindung von Aliens.
Das einzig Vernünftige (1985) [The Only Neat Thing to Do]
Während es schon rasch klar war, dass es sich bei ‚James Tiptree jr.‘ um ein Pseudonym handeln musste, blieb die wahre Identität dahinter lange verborgen. Als es sich dann herausstellte, dass sich hinter dem männlichen Pseudonym mit Alice B. Sheldon eine Frau versteckt hatte, sorgte das für einige Konsternation bei Kritikern und SF-Autoren-Kollegen, die ihr ganzes Einkommen darauf verwettet hätten, dass hinter ‚James Tiptree jr.‘ ein Mann stecken müsse, seien doch Stil wie Themen ‚Tiptrees‘ so absolut männlich. (So viel zum Thema Gender Roles und Vorurteile…) Sheldon übrigens veröffentlichte auch nach der Lüftung des Pseudonyms weiter als ‚Tiptree‘, so auch dieses Buch hier.
Allerdings lässt sich selbst in diesem späten Werk1) ein bisschen nachvollziehen, wie Kritiker und Kollegen zu ihrer falschen Überzeugung gelangen konnten. Nehmen wir diese erste Geschichte:
Eine junge, 16-jährige Frau, die von ihren Eltern ein Raumschiff zum Geburtstag erhalten hat, rüstet dieses in Eigenregie von einer Vergnügungsjacht um in ein Forschungsschiff, mit dem sie auch den Sternengraben explorieren kann. Es wird nicht klar, worum es sich bei diesem Graben tatsächlich handelt – den von Sternen relativ freien Raum zwischen der Milchstrasse und andern Galaxien oder den ebenfalls von Sternen relativ freien Raum zwischen zwei Armen der Milchstrasse? (Persönlich tendiere ich zu letzterem.) Diese frühreife Göre nun erinnert in ihrem Wesen, ja in ihrer Sprache (vieles wird in der Ich-Form von ihr selber erzählt) sehr an ähnliche Heldinnen in Robert A. Heinleins sog. „Juveniles“, seinen Jugendbüchern. Nur ist Tiptrees Erzählung nicht für die Jugend und endet auch tragisch, da die 16-Jährige einem Versehen eines Aliens zum Opfer fällt.
Auch hier ist die Lebens- und Fortpflanzungsform des Aliens der interessanteste Teil der Geschichte – eine Fortpflanzungsform, der die junge Menschenfrau aus Unachtsamkeit von beiden Seiten zum Opfer fällt.
Lebt wohl, ihr Lieben (1986) [Good Night, Sweethearts]
Ebenfalls im Sternengraben handelnd, aber ganz ohne Aliens auskommend (sie werden, wie umgekehrt die Menschen in der Rahmenerzählung, nur erwähnt; man bekommt sie nicht zu Gesicht), wird hier die Geschichte eines ehemaligen Soldaten erzählt, der nun als eine Art Pannen- und Abschleppdienst im Sternengraben arbeitet. In einem dieser Raumschiffe, dem der Treibstoff ausgegangen ist, trifft er auf seine ehemalige Geliebte. Da er sich für seine Fahrten im Sternengraben immer wieder in Tiefschlaf versetzt, in dem alle Lebensfunktionen ausgesetzt sind und er also auch nicht altert, sie aber weniger gereist ist und sich nur durch verschiedene Operationen ‚jung‘ gehalten hat, besteht jetzt zwischen den beiden eine Lücke an Lebenserfahrung von beinahe 100 Jahren. Dennoch fühlt sich der junge Mann immer noch zu ihr hin gezogen. Als dann aber noch ein Klones-Klon seiner Geliebten auftaucht, die nun wirklich noch so aussieht, wie er diese in Erinnerung hat, geraten die Gefühle des ehemaligen Soldaten endgültig durcheinander. In das Ganze eingearbeitet ist eine Geschichte mit Raumpiraten und Entführungen. Das Ende will ich jetzt hier nicht verraten, nur so viel sei gesagt, dass Tiptree die Erwartungen romantisch gesinnter Leser und Leserinnen düpiert.
Kollision (1986) [Collision]
Eine weitere Geschichte eines Erstkontakts zwischen Menschen und einer Alien-Spezies, die beinahe in einen interstellaren Krieg zwischen zwei Grossmächten gemündet hätte. Doch auch hier ist die eigentliche Story Nebensache. Mit grosser Liebe und zum Teil recht detailliert schildert Tiptree abermals eine Gesellschaftsform, die von der ’normalen‘, menschlichen, in vielem abweicht.
Generell gilt zu sagen, dass Aliens die grosse Stärke Tiptrees sind. Die menschliche Gesellschaftsform jener Zukunft bleibt vage. Offenbar sind die Menschen, zumindest, was diese ‚last frontier‘, den Sternengraben, betrifft, recht militärisch organisiert. Es wird aber nicht klar, ob das für die ganze Menschheit gilt oder nur für diese Aussenposten. Hierin und in den wiederholten Formen von Erstkontakt erinnert das Sternengraben-Universum an das Universum von Star Trek. In beiden Fällen wird angedeutet, dass da auch so etwas wie eine zivile Gesellschaft existiert; in beiden Fällen wird auf diese Gesellschaft aber nicht weiter eingegangen. Zu Gunsten Tiptrees ist zu sagen, dass hier die Aliens phantasievoller gestaltet sind. Es fällt aber auf, dass die Menschheit – vor allem in der ersten und der letzten Geschichte (die mittlere ist schon fast ein wenig anarchistisch und fällt aus dem Rahmen) – sehr … wie soll ich sagen? … patriotisch ist das falsche Wort, weil Nationalstaaten in jener fernen Zukunft offenbar nicht mehr existieren … sagen wir: sehr konservativ ist, konservativ im Sinne einer immer an das Heil und die Erhaltung der ganzen menschlichen Spezies denkenden Haltung. Selbst die 16-Jährige der ersten Geschichte denkt und handelt konservativ. Das ist bei einer Autorin, die im ‚realen Leben‘ am Aufbau des CIA mitbeteiligt war, wohl auch nicht anders zu erwarten.
1) Sie wählte 1987, selber leidend und mit einem Gatten, der, bedeutend älter als sie, unterdessen zum hilflosen Invaliden geworden war, mit diesem zusammen den Selbstmord durch Erschiessen als Exit.
James Tiptree jr.: Sternengraben. (Sämtliche Erzählungen. Band 6) Aus dem Amerikanischen von Eva Bauche-Eppers, Frank Böhmer und Laura Scheifinger. Wien: Septime, 2014