Hermann Broch: Die Schlafwandler. Der dritte Roman: 1918 • Huguenau oder die Sachlichkeit

Huguenau oder die Sachlichkeit ist noch einmal ganz anders als die beiden ersten Romane der Schlafwandler-Trilogie. So anders in der Tat, dass die andern Romane im Vergleich dazu wie aus einem Guss zu sein scheinen.

In Huguenau ist Hermann Broch endgültig in der Moderne angekommen. Der Erzählstrang ist kaleidoskopartig aufgesplittert. Zu Beginn ist es noch nicht einmal klar, ob – und falls ja: wie – die verschiedenen Splitter faktisch zusammen gehören. Nur das Thema wird dem Leser schon rasch klar; und das ergibt sich aus der dem Titel voran gestellten Jahreszahl: Wir befinden uns nunmehr im Jahre 1918. Der Erste Weltkrieg ist noch nicht zu Ende, aber schon sind alle Beteiligten – zumindest die ‚kleinen Leute‘, die der Roman vorstellt – seiner herzlich überdrüssig. Unbewusst ist allen Protagonisten klar, dass so ein Krieg keine Gewinner kennt, dass zumindest sie alle auf der Verliererseite stehen. (Auch Huguenau, der sich als Gewinner sieht, wird vom Erzähler als Verlierer gestempelt – zumindest „in the long run“, wo er komplett verfettet und endgültig zum Spiessbürger mutiert.)

Im Laufe des Romans führt Broch seine Polyphonie an Stimmen und an Schicksalen immer mehr zusammen. Die vorher einzeln und ohne Zusammenhang eingeführten Figuren treffen in einer kleinen deutschen Stadt in der Etappe der Westfront in verschiedenen Zusammensetzungen aufeinander. Das erinnert in Aufbau und Struktur an jene andere Romantrilogie der Moderne, die ebenfalls einen Staat zum Thema hatte. Ist bei Broch Deutschland nur implizit als Oberthema zu eruieren, führt John Dos Passos seinen Staat im Titel explizit auf. (Ich spreche von seiner Trilogie U. S. A., wobei Dos Passos seine Collage-Technik konsequenter durchführt.)

Nur zwei Erzählstränge bleiben bei Broch aussen vor, werden nicht mit dem Rest zusammengeführt: Da sind jene 15 Kapitel, in denen ein Dr. Bertrand Müller in der Ich-Form die Geschichte einer aufkeimenden Liebe erzählt zwischen einem Heilsarmee-Mädchen und einem jungen, orthodoxen Juden, der nicht er selber ist. Dieser Strang ist auch geografisch vom Rest getrennt, befinden wir uns doch da in Berlin. Einige dieser Kapitel sind sogar einfach Gedichte. Dr. Müllers genaue Rolle in seiner Erzählung wird allerdings nicht klar. Und dann sind da theoretische Einschübe, bei denen ebenfalls nicht klar wird, ob die einfach einer weiteren fiktiven Stimme zuzuordnen sind, oder ob hier Broch selber das Wort führt. Diese theoretischen Ausführungen sollen wohl helfen, die Geschehnisse des Romans besser einordnen zu können. Ich finde sie allerdings eher verwirrend. Dies nicht nur, weil man als Leser nun nicht weiss, wem sie zuzuordnen sind. Auch inhaltlich sind sie etwas wirr. Ich glaube, verstanden zu haben, dass in diesen Abschnitten die Renaissance (sic! – Broch meint den Humanismus) bzw. der aus dem Wirken Luthers hervorgegangene Protestantismus mit seiner Aufsplitterung eines einheitlichen Glaubens auch an der Aufsplitterung einer einheitlichen Lebensauffassung am Ende des Ersten Weltkriegs schuld sei. Aber, wie gesagt, so ganz klar wird mir die Sache nicht.

Alles in allem ein Ende einer Trilogie, das (formal) so nicht zu erwarten war. Etwas unbefriedigend, da viele Frage offen lassend, die der Autor aber wohl beantwortet zu haben glaubte.

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