John Burroughs gilt in den USA als der legitime Nachfolger von Henry David Thoreau, zumindest, was die literarische Form des ’nature writing‘ betrifft. Man kann mit Recht behaupten, dass Thoreau diese Literaturform überhaupt erst ins Bewusstsein der Leser gebracht hat, und dass er nirgends so viele Nachfolger und Nachahmer gefunden hat, wie in den USA.
Borroughs also einer der wichtigsten und zumindest in den USA bekanntesten davon. Hier vor mir liegt ein kleines Büchlein, nicht mit seinem eigentlichen ’nature writing‘, sondern mit zwei Essays, die sich mit eben dieser literarischen Kunst befassen – vor allem der erste: Von der Kunst, Dinge zu sehen. Hier entpuppt sich Borroughs nicht nur als Schüler Thoreaus. Er hat vor allem auch die Philosophie Ralph Waldo Emersons eingesogen, deren schon fast ins Mystische abgleitende Begriffsunschärfe, die jedweden philosophischen Idealismus desavouiert. Burroughs‘ Abhängigkeit von Emerson zeigt sich zum Beispiel in der Aussage, zwar nicht immer den (wissenschaftlichen) Namen eines Vogels angeben zu können, aber mit seinen Beschreibungen dessen Wesen zu erfassen. (Quasi Kants ‚Vogel an sich‘.) Das hindert ihn nicht, bei einem Besuch von Walden Pond, den er zusammen mit Emersons Sohn machte, enttäuscht festzustellen, dass dort von Thoreau nur noch sehr wenig übrig geblieben war.
Neben Emerson spielt in Borroughs‘ Philosophie der US-amerikanische Dichter Walt Whitman mit seiner Form der Naturbetrachtung eine große Rolle. (Burroughs‘ erste Publikation überhaupt beschäftigte sich mit Whitman.) Dass er auf Goethes Aussage gegenüber Eckermann Bezug nahm, dass die Erde sozusagen atme, wird nicht verwundern. Oder dass er der taub-blinden Schriftstellerin Helen Keller attestierte, trotz ihrer Behinderung zum Wesen der von ihr geschilderten Dinge vorgedrungen zu sein. Neben Whitman ist der Dichter, den er am meisten zitiert, der englische Naturlyriker und Romantiker William Wordsworth. Walter Scott ist ihm auch nicht fremd. (Zugegeben, Borroughs war belesen und zitiert auch Shakespeare und dessen Widerpart Jonson. Aber seine idealistisch-romantischen Wurzeln sind unüberlesbar.)
Obiges gilt vor allem für den ersten Essay meiner kleinen Sammlung. Der zweite, über 30 Jahre vor dem ersten erschienene (1876 vs. 1908), ist nüchterner, weniger mystisch angehaucht. Die Heiterkeit der Landstraße findet Burroughs beim Gehen. Spazieren gehen oder wandern – den Unterschied macht er nicht. Wichtig ist es, zu gehen, nicht zu fahren oder zu reiten. So macht es für ihn primär einmal keinen Unterschied, ob ich auf dem Land gehe oder in der Stadt. Allerdings ist ersteres natürlich vorzuziehen. Er kontrastiert in seinem Essay vor allem eine US-amerikanische Form der Fortbewegung mit einer englischen. Für letztere steht der passionierte Fußgänger Dickens Modell. Es geht, grob gesagt, um den Unterschied zwischen jenen, die zu Fuß unterwegs sind, um wohin zu kommen, und jenen, die spazieren, um die Umgebung wahrzunehmen. Obwohl er im Essay nicht vorkommt, kann und muss Burroughs‘ Ideal in diesem Satz ausgedrückt werden: „Der Weg ist das Ziel.“
Zwei Essays, die einem diese, schon fast spezifisch US-amerikanische Form der Literatur, das ’nature writing‘, etwas näher bringen. Auch wenn man, wie ich, kein Anhänger des Transzendentalismus Emerson’scher Ausprägung ist. (Eigentlich überhaupt kein Anhänger des Transzendentalismus…)
John Burroughs: Von der Kunst, Dinge zu sehen. Von der Heiterkeit der Landstraße. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Klaus Bonn. Innsbruck, Wien: Limbus, 2019