Nicht nur bei Theodor Fontane, auch bei Gottfried Keller jährt sich dieses Jahr der Geburtstag zum 200. Mal. So ist es wohl kein Zufall, dass heuer dieses mit etwas über 500 Seiten doch recht umfangreiche Buch bei wbg Academic erschienen ist, einem Imprint der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Sein Autor, Ulrich Kittstein, ist gemäß Klappentext Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim. Es solle dieses Buch keine Biografie sein, führt er gleich zu Beginn aus. Tatsächlich handelt es sich im Großen und Ganzen um eine literaturwissenschaftliche Verortung von Kellers Gesamtwerk, eine Interpretation der wichtigsten Themen, die Keller verarbeitet hat, der wichtigsten Einflüsse, denen er unterworfen war.
„Im Großen und Ganzen“, habe ich jetzt gerade geschrieben. Der Grund für diese Einschränkung liegt weniger bei Kittstein, mehr bei seinem Thema. Es gibt wenige Autoren, bei denen Leben und Werk derart in einander verwickelt sind, wie bei Gottfried Keller. Sicher, wir erfahren hier kaum etwas über – zum Beispiel – Kellers Zusammenleben mit seiner Schwester Regula. Kaum etwas über seine Freunde – die Schriftsteller Storm wie Heyse erscheinen nur als Adressaten von Briefen, in denen Keller Teile seiner Poetologie entwickelt. Wir erfahren wenig über Art und Qualität der Malerei, zu der sich Keller ursprünglich berufen fühlte, und um deren Willen er sich mit einem staatlichen Stipendium in München, Heidelberg und Berlin herumtrieb. Zumindest theoretisch „um deren Willen“: So richtig gelernt hat Keller die Malerei ja nicht – seine Lehrer, sofern er sich überhaupt welche suchte – waren selber mehr oder weniger Stümper. Keller hat eigentlich nichts – oder, wie unsere Großeltern gesagt hätten: nichts Gescheites – gelernt. Das wiederum wird wichtig für Kittstein, bzw. für Keller, ist doch das Thema ‚Bildung‘ eines der ganz prominenten im seinem Werk. Damit ist nicht die allgemeine Schulbildung (worin Keller, der selber von der Schule geflogen war – auch hier wieder die biografische Einfluss – ein Verfechter der Thesen Pestalozzis war) oder die Ausbildung zu einem bestimmten Beruf gemeint, sondern die Bildung zum ganzen, vollgültigen Menschen. Was bei Keller immer heißt: die Bildung zum vollgültigen Staatsbürger. Bildung in einem sehr ‚klassischen‘ Sinne also.
Somit hätten wir schon das nächste wichtige Thema Kellers identifiziert, das Kittstein geltend macht: die Politik. Praktisch jedes Werk bei Keller – von den frühen Gedichten über die erste Fassung des Grünen Heinrich, die Seldwyler und die Züricher Novellen bis hin zum Alterswerk Martin Salander befasst sich mit Politik. Nicht mit einer globalen und letzten Endes ungreifbaren Weltpolitik, sondern der städtischen und kantonalen Zürcher Politik, allenfalls noch der des Schweizer Bundesstaats. Als er mit Dichten (und damit auch mit ‚politischer Schriftstellerei‘) begann, war Zürich noch ständisch-konservativ organisiert, mit einer historisch gewachsenen Oberschicht, die de facto diktatorisch über die Stadt und das Land Zürich herrschte. Keller, der von einem liberalen Standpunkt aus schrieb, erlebte im Folgenden, wie die liberale Partei unter Alfred Escher diese Oberschicht stürzte – nur um deren Privilegien auf die eigenen Leute zu übertragen. Selten wurden die kapitalistischen Übel der Korruption und der Vetternwirtschaft in Zürich offener gelebt als unter Escher. Keller kritisierte das zuerst öffentlich und schriftlich; als er aber Staatsschreiber des Kantons Zürich geworden war (und damit Teil des ‚Systems Escher‘), verteidigte er den Unternehmer Escher, die liberale Regierung und die dazu gehörende repräsentative Demokratie ebenso öffentlich und schriftlich. Liberale Regierung und repräsentative Demokratie wurden dennoch 1869 ersetzt durch eine Regierung (und ein Parlament), die ‚demokratisch‘ waren und durch eine Verfassung, die eine direkte Demokratie vorsah. Keller arrangierte sich abermals; er setzte seine Hoffnung – auf den ersten Blick etwas irrational – auf das Volk, das schon nicht überborden würde. (Keller, um Kittstein kurz zu verlassen, hatte damit so Unrecht nicht. Die direkte Demokratie hat unterdessen 150 Jahre überdauert. Das Volk ist nie einem Extremismus verfallen, auch wenn es Krisen und Grabenkämpfe gab und gibt. Im Gegenteil: Die direkte Demokratie, die den Leuten das Gefühl gibt, dass sie ja jederzeit kriegen können, was sie möchten, hat die Schweiz bisher recht gut vor allzu heftigen politischen Experimenten à la „Brexit“ geschützt. Ende der Abschweifung.) An seinem Lebensende sollte Keller noch gewahr werden, wie die letzten Endes regional oder gar lokal verankerte Form des Kapitalismus, den das Schweizer Unternehmertum darstellte, durch einen weltumspannenden Kapitalismus abgelöst wurde; selbst die ‚demokratische‘ Partei wurde von einer ‚progressiven‘ zu einer ‚konservativen‘ Kraft, tauchten doch am Ende des 19. Jahrhunderts als Gegenpol zum globalen Kapitalismus die eben so globalen Strömungen des Sozialismus und des Kommunismus am Horizont auf.
Mit dem Hineinwachsen in die politische Verantwortung haben wir ein weiteres Hauptthema von Kellers Werk vor uns. Viele seiner Romane und Novellen sind, was man in der Literaturwissenschaft einen „Bildungs- oder Entwicklungsroman“ zu nennen pflegt. Die Bildung ist, so sie glückt, bei Keller immer eine hin zum ‚guten‘ (weil: verantwortungsbewussten) Staatsbürger. Im Hintergrund steht dabei, wenn ich Kittstein richtig verstehe, die Anthropologie Feuerbachs, die Keller schon als junger Mann eingesogen hat, und die nicht nur in theologicis, sondern auch allgemein die Selbstverantwortung des Menschen gegenüber der Welt betont. Hierin – weil dieser nämlich die Verantwortung des Menschen gegenüber Gott sah und nicht gegenüber der Welt – hat Keller auch in verschiedenen Kritiken an Jeremias Gotthelf den fundamentalen Unterschied zwischen sich und ihm heraus gearbeitet.
In diesen Kritiken also, und in ein paar Briefen an Heyse und Storm, hat Keller seine poetologische Ansicht zu erklären versucht. Die war recht vertrackt, denn auch Keller zählte sich und seine Zeitgenossen zu jener Generation der Epigonen, die sich an Goethe und Schiller abzuarbeiten hatten. Einerseits stimmt Keller der Weltanschauung (oder sollen wir sagen „Ästhetik“?) von Goethes Farbenlehre ebenso zu, wie der in Schillers Wilhelm Tell oder den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen hinterlegten politischen Philosophie. Andererseits sieht er natürlich die Notwendigkeit, dies alles dem Denken und Fühlen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Schweiz anpassen zu müssen. (Friedrich Theodor Vischer, den er in dessen Zürcher Exil kennen gelernt hatte, war da keine große Hilfe. Keller war seiner Lebtage nie Hegelianer.)
Last but not least: die Frauengestalten bei Keller. Der Zürcher war alles andere als ein Feminist im Sinne des 21. Jahrhunderts. Seine Frauen, wo sie ‚gut‘ sind, sind verantwortungsbewusste Mütter und Gattinnen. Auch politisch verantwortungsbewusst, selbst wenn sie über kein Stimmrecht verfügen und auch nicht verfügen wollen. Die sexuell anziehenden und / oder selbstbewussten Frauen werden, wenn wir einmal von der grossen Ausnahme der Judith im Grünen Heinrich (beide Fassungen) absehen, bei Keller meist dämonisiert. Einzig im Novellenzyklus des Sinngedichts treffen wir auf eine durchgängig differenziertere Darstellung der weiblichen und männlichen Rollen. Aber auch da ist Keller ganz sicher kein Streiter für eine Gleichberechtigung der Frau. Das Thema ‚Frau‘ ist der Punkt, wo Kittstein am wenigsten der Charybdis ausweichen kann, Kellers Privatleben mit zu thematisieren: das früh vaterlos gewordene Kind, von einer schwachen Mutter erzogen; später alle unglücklich verlaufenden Liebschaften des etwas kurzbeinigen Keller, der sich stets in groß gewachsene und stattliche Frauen verliebte. Zum Glück für das Buch streift Kittstein psychoanalytische Deutungen nur in Nebensätzen.
Alles in allem also sehr informativ, gut geschrieben, auch dem Laien zugänglich und dennoch mit dem ganzen Apparat versehen, den jemand braucht, der einem Thema oder Keller selber weiter nachgehen will.