Der erste Abschnitt („Geil und mobil“) überschneidet sich mit dem kürzlich besprochenen Buch von Svante Pääbo: Hier wird unsere genetische Herkunft analysiert und versucht, „das unklare phylogenetische Gestrüpp der Menschheit“ zu entwirren. Dabei wendet sich Rutherford erstmals (denn später erfolgt ein weiterer Hinweis) gegen die in solchen Büchern üblicherweise verwendete Baumstruktur bezüglich unserer Wurzeln – denn allüberall gibt es Querverbindungen (etwa zum Neandertaler oder Denisova-Menschen), während die idealisierte Darstellung des Stammbaums der Realität nicht gerecht wird. Danach zeigt der Autor die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der „europäischen Union“ auf (wobei sich dieser Teil auch als eine wunderbare Einführung in die Evolutionslehre lesen lässt, die Selektion, Adaption oder Gendrift anhand der genetischen Fakten darstellt), um schließlich jedweden Abstammungsdünkel eine Abfuhr zu erteilen: So zeigt er, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jeder Europäer mit Karl dem Großen verwandt ist (nicht dass ich auf eine solche enge Verbindung Wert gelegt hätte) und dümmliche Ansprüche wie von Christopher Lee (der seinen Stammbaum bis ins erste nachchristliche Jahrhundert verfolgen zu können glaubt und diverse Könige als Vorfahren reklamiert) eben genau das sind – dümmlich. Denn wieder ist es der zu falschen Assoziationen verleitende Stammbaumbegriff, der das tatsächliche Netz an Vorfahren als linear erscheinen lässt. Allerdings lässt sich das durch einfache Rechnungen widerlegen, müsste dann doch ein heute lebender Mensch zur Zeit Karls des Großen bereits mehr als 137 Milliarden Vorfahren gehabt haben (bei einer angenommenen 25jährigen Generationenfolge). Nicht nur Christopher Lee ist adeligen Geblüts, wir alle sind es (und das war wahrscheinlich nicht die Intention von dessen Behauptung).
Weitere Berechnungen zeigen, dass der jüngste gemeinsame Vorfahr aller heute lebenden Menschen vor etwa 3600 Jahren gelebt hat (mit Hammurabi teilen wir also ausnahmlos unsere Gene, bei Jesus von Nazareth ist es nur sehr wahrscheinlich). Diese Relativierung unserer vermeintlich einzigartigen Herkunft leitet dann über zu einem Aspekt, der noch immer nicht zum Allgemeinwissen geworden ist: Der Tatsache, dass der Rassenbegriff aus wissenschaftlicher Sicht längst obsolet geworden ist. Schon die „Out-of-Africa“-Hypothese lässt derlei auch für den Laien vermuten: Wenn sich eine relativ kleine Gruppe vor 100 000 Jahren über die Welt verteilt hat, sollten sämtliche Nachkommen dieser Gruppe (also etwa Japaner, Aborigines und Schweizer) enger miteinander verwandt sein als manche Afrikaner untereinander. Und genau das haben die genetischen Untersuchungen nachgewiesen: „Anders ausgedrückt, sind körperliche Unterschiede zwischen einem Hell- und Dunkelhäutigen zwar deutlich sichtbar, doch die Gesamtmenge an Unterschieden ist viel geringer als zwischen zwei Dunkelhäutigen.“ (So ist etwa ein Nigerianer enger mit einem Schweden verwandt als mit jemandem aus Namibia.) Und Rutherford kommt zum Schluss: „Die Genetik hat gezeigt, dass die menschliche Variation und ihre geographische Verteilung komplexer ist und einer stringenteren Analyse bedarf, als die Versuche darstellen, diese Fakten mit kruden und schlecht definierten Begriffen wie ‚Rasse‘ oder ‚Schwarz‘ und ‚Weiß‘ zu umschreiben. Daher kann ich aus Sicht des Genetikers voller Überzeugung sagen, dass so etwas wie Rasse nicht existiert. Der Begriff hat keinerlei wissenschaftlichen Wert.“
Diese Erkenntnis scheint mir in unseren Zeiten von Bedeutung, wenngleich ich mir sicher bin, bei verschiedenen, ganz realen Gesprächspartnern in meiner Umgebung damit auf wenig Verständnis und noch weniger Zustimmung zu stoßen. (Allerdings hat es auch eine Zeitlang gedauert, bis sich die Sonne nicht mehr um die Erde bewegt hat …) Was das Buch aber über diese Erkenntnisse hinausgehend so lesbar macht, ist sein Bekenntnis zur wissenschaftlichen Forschung. Denn Rutherford zeigt gerade anhand des nun entschlüsselten menschlichen Genoms, wie wenig wir tatsächlich bislang die Zusammenhänge und das Zusammenwirken von Genen durchschauen und wie gering unser diesbezügliches Wissen noch ist (sehr viel geringer als noch vor der Entschlüsselung angenommen, da man sich über die Komplexität des Codes nicht im Klaren war). Weshalb auch jede Schlagzeile in der Form „Gen für xy entdeckt“ ohne weitere Prüfung als Unsinn zurückgewiesen werden kann (Rutherford zitiert Aussagen, die Gene für das Dicksein, das Bevorzugen der Farbe Rosa, für Homosexualität, ewiges Leben oder Geschwätzigkeit verantwortlich machen). Nichtsdestotrotz (und auch der Komplexität des Gegenstandes wegen) gehört die Genforschung zu den spannendsten und am meisten Überraschungen bergenden Forschungsgebieten – eine Tatsache, die Rutherford mit diesem exzellent geschrieben Buch untermauert. Uneingeschränkte Empfehlung.
Adam Rutherford: Eine kurze Geschichte von jedem, der jemals gelebt hat. Was unsere Gene über uns verraten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2018.
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