Allerdings wird auch die Problematik solcher Bücher sichtbar: Oft Jahrzehnte später niedergeschrieben stellen sich die Erinnerungen bei einem Gutteil der Autoren offenbar wesentlich schöner und romantischer dar als sie gewesen sein dürften (obwohl der Klappentext das Gegenteil behauptet). Die gute alte Zeit ist immer auch die Zeit, in der man jung war, sie drückt oder quält nicht mehr unmittelbar und das Gedächtnis ist aus gutem Grunde selektiv: Indem es Negatives verdrängt, vergisst und das Positive über Gebühr an Bedeutung gewinnen lässt. Wer sich mit Menschen aus dieser Generation über Fronterlebnisse im Zweiten Weltkrieg unterhalten hat, weiß, wovon ich spreche, obwohl es hier (wie auch im Buch) Ausnahmen gibt. Das zwingt zu einem Lesen zwischen den Zeilen, zur Vorsicht gegenüber allzu idyllischen Geschichten.
Ich habe ein Faible für solche Bücher (oder Unterhaltungen), was wohl auch daran liegt, dass ich selbst noch (halb) am Land aufgewachsen bin und auch später in Städten nie wirklich heimisch werden konnte (was zu einem Leben in einem Dorf führte, dessen Einwohnerzahl etwa 1/25 der in diesem Haus verfügbaren Bücher beträgt – wobei allerdings die Anzahl letzterer beträchtlich ist). Ich habe auch einige Jahre als Senner verbracht, bin dort – zwangsläufig – mit der bäuerlichen Bevölkerung in engerem Kontakt gestanden (enger als mir lieb war) und kenne diese Welt (wenn auch nicht in ihrer ursprünglichen Härte) aus eigener Erfahrung. Und selbst vor 30 Jahren war an diesem Bauernleben nicht viel Romantisches zu entdecken, hingegen sehr viel Enge, Kleinlichkeit, Beschränktheit und vor allem ein Unmaß an Vorurteilen (denen ich als Student, ein per se suspektes Wesen, in nicht unerheblichem Maße ausgesetzt war: So wurde meine Arbeit bestenfalls trotz dieser Tatsache geschätzt, konnte ich als Ausnahme von der Regel fungieren, die deshalb keineswegs in Frage gestellt wurde).
Wenn man die hier gesammelten Erinnerungen liest (selbst jene, die offenkundig durch ihr langes Zurückliegen einen Glanz gewonnen haben, der ihnen wahrscheinlich nicht zukommt), werden Reichtum und Möglichkeiten unserer heutigen Zeit deutlich (wie auch Steven Pinker zu Recht betont). Arbeitszeit, Ernährung, medizinische Versorgung, die häufig beklagte Unmöglichkeit zum Schulbesuch, die Aussichtslosigkeit und Enge eines Lebens, dass durch Traditionen und Christentum reglementiert war – all das lässt das Leben in heutigen Entwicklungsländern als beneidenswert erscheinen (nicht, dass dem tatsächlich so wäre). Die Kinderarbeit eine Selbstverständlichkeit (mein Vater, dessen Geburtsjahr ebenfalls in diese Zeit fällt, wurde mit noch nicht einmal 6 Jahren bereits zur Arbeit auf einen anderen Hof gegeben, ein Esser weniger), Zufriedenheit schon dann äußernd, wenn man nur keinen Hunger leiden musste, weitgehende Rechtlosigkeit der Knechte und Mägde (und selbstverständlich der Kinder), Abhängigkeit von äußeren Umständen, dem Wetter, der Politik. Die Religiosität als ein hilfloses Ventil ob all dieser Unwägbarkeiten, wer aller Möglichkeiten ermangelt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, nimmt vorzugsweise Zuflucht zum Numinosen.
Neben den sozialen Umständen gibt es auch genaue Beschreibungen der verschiedenen Arbeiten (nebst einem Glossar, dass umgangssprachliche Ausdrücke als auch Fachbegriffe erläutert), einen Abriss des „bäuerlichen Kalenders“ und Kurzbiographien der Verfasser. Eine für mich anregende, faszinierende Lektüre, für die man jedoch eine gewisse Affinität zu diesen Dingen mitbringen sollte. Eine Form der Sozialgeschichte, die ich außerordentlich schätze und die all jene, die da von alten Zeiten schwärmen, ein wenig zum Nachdenken anregen sollte.
Kurt Bauer (Hrsg.): Bauernleben. Vom alten Leben auf dem Land. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2014.