Ursula K. Le Guin: The Left Hand of Darkness [Die linke Hand der Dunkelheit; a.k.a.: Winterplanet]

Zwei Rätsel. Eines gelöst. Dafür auf ein neues gestossen.

Je m’explique.

Das gelöste Rätsel

Ich habe vor Jahrzehnten einmal einen Roman von Ursula K. Le Guin gelesen. Beim Kauf von A Wizard of Earthsea war ich der Meinung, es müsse dieser Roman gewesen sein. Doch schon nach ein paar Seiten wusste ich, dass dem nicht so war: Das wenige vom Inhalt, an das ich mich erinnerte, war eindeutig Science Fiction für Erwachsene gewesen, nicht Fantasy für Jugendliche. Das Rätsel blieb also für mich bestehen. (Nicht, dass es mir nun schlaflose Nächte beschert hätte. Aber von Zeit zu Zeit rumorte es im Hinterkopf herum wie eine Fliege im Einmachglas.)

Nach der Lektüre von The Left Hand of Darkness (nein, dieser Roman war es auch nicht gewesen) klickte ich ein wenig Internet herum, wie ich es fast immer tue, wenn ich mich auf das Schreiben eines Aperçus vorbereite – einfach so, um zu sehen, wie andere das Buch einschätzen. Dabei stiess ich darauf, dass The Left Hand of Darkness ein Roman aus einem Zyklus ist, dem sog. Hainish-Zyklus. (Ich komme gleich darauf.) Neugierig, wie ich bin, klapperte ich auch Zusammenfassungen und Interpretationen der andern Romane dieses Zyklus ab. Und stiess dabei auf The Dispossed [Die Enteigneten], den Roman, den ich noch unter dem alten Übersetzungs-Titel Planet der Habenichtse gelesen haben muss.

Rätsel gelöst.

Der Hainish-Zyklus

Man wird The Left Hand of Darkness nicht verstehen, ohne die Grundelemente des Hainish-Zyklus zu kennen. (Le Guin liefert allerdings alle notwendigen Informationen in ihrem Roman mit.) Kurz zusammengefasst ist es im Hainish-Universum so, dass vor langer, langer Zeit die Menschen, ausgehend von ihrem Ursprungsplaneten Hain das Weltall besiedelt haben. Wo immer menschliches Leben möglich war, wurden Kolonien hinterlassen. So auch auf Terra, der Erde. (Wie das mit den auch 1969 – dem Erscheinungsjahr von The Left Hand of Darkness – bereits als gesichert geltenden Erkenntnissen der Evolutionstheorie zusammen passen sollte, hat Le Guin m.W. nirgends erklärt.) In einigen Fällen zumindest wurden bei den Kolonisten auch genetische Experimente ausgeführt. Irgendwann ging bei den Leuten von Hain (eben den Hainish) das Wissen um die interstellare Raumfahrt ebenso verloren wie das Wissen um den Standort der gegründeten Kolonien. Über die Gründe dafür können auch die Protagonisten von The Left Hand of Darkness nur spekulieren. Jedenfalls sollte es Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende, dauern, bis eine interstellare Raumfahrt wieder möglich war, und bald machte sich die Menschheit daran, ihre vergessenen Kolonien wieder zu finden. Treibende Kraft war dabei die Ekumen, eine Art Liga der Welten. (Die deutsche Übersetzung Ökumene gibt dieser lockeren Vereinigung einen zu starken kirchlich-theologischen Touch. Religion spielt im Hainish-Universum keine Rolle.)

Gethen

Im Roman The Left Hand of Darkness nun hat die Ekumene vor kurzem erst den Planeten Gethen entdeckt. Ein paar vorausgeschickte Scouts, die inkognito dort lebten, hatten ihn bzw. seine Bewohner als prinzipiell geeignet für einen Beitritt zur Ekumene eingestuft, und so treffen wir nun den Terraner Genly Ai als eine Art offiziellen Botschafter und Werbeträger für sie. Gethen ist ein ziemlich kalter Planet; was für die Bewohner ein milder Sommertag ist, empfindet der Terraner als kalten Winter. Deshalb wurde der Planet innerhalb der Ekumene denn auch einfach „Winter“ genannt. Der Roman nun schildert die Erlebnisse des Terraners Genly Ai, der zunächst recht erfolglos versucht, beim König eines der lokalen Staaten vorgelassen zu werden und für seine Mission zu werben. Derselbe Werbefeldzug im Nachbarstaat ausgeführt, bringt ihn sogar in eine Art Konzentrationslager – denn diplomatische Immunität kennen die Gethenianer nicht. Das letzte Drittel des Romans erzählt, wie er – dank der Hilfe einer ebenfalls aus dem Königreich Karhide verbannten Person – fliehen kann und seine Mission doch noch zu einem erfolgreichen Ende bringt.

Das ungelöste Rätsel

Ein Rätsel ist mir der Umstand, dass das Werk seit seinem Erscheinen immer wieder mit dem Etikett „feministisch“ versehen wird. Ich vermute, dass das mehr oder weniger an einem einzigen Kapitel fest gemacht wird – nämlich am 7. Kapitel, The Question of Sex, einem der wenigen Kapitel, die nicht in der Ich-Form eines Berichts von Genly Ai stammen, sondern von einem der Scouts, einer Frau namens Ong Tot Oppong, deren Herkunft nicht genannt wird und die auch keine Rolle spielt. Diese Ong Tot Oppong schildert voller Erstaunen und auch ein wenig Neid die Tatsache, dass auf Gethen jede Person alles machen kann und darf, und dass die Pflege und Aufzucht von Kindern nach der Säuglingsphase sehr rasch auf die Familie und die Gesellschaft verlagert wird. (Das nicht im kommunistischen Sinn von Platons Staat: Die Kinder wissen durchaus, wer ihre Eltern sind, sie gehören auch nach wie vor zur Familie – besser sollte man wohl sagen zum Clan – die bzw. der durchaus hierarchisch strukturiert ist.)

Aber: Das ist ungefähr das „Feministischste“, das der Roman aufzuweisen hat. Und Le Guin erzielt diese feministische Utopie, indem sie eine ganz andere darüber stülpt: Auf Gethen sind die Menschen die meiste Zeit sexuell inaktiv. Nur einmal im Monat, während einer Zeit, die sie Kemmer nennen, werden sie aktiv. Und nur in dieser Zeit bilden sie auch die dazu notwendigen primären und sekundären Geschlechtsmerkmale aus. Das Neutrum wird zu einem Mann oder zu einer Frau. Keines weiss im Voraus, ob es diesen Monat männlich oder weiblich sein wird. Jedes kann gegebenenfalls Kinder zeugen oder Kinder kriegen. (Als Nachkommen und Erben gelten nur die Kinder, die so eine Person als Mutter zur Welt gebracht hat.) Es gibt auf Gethen durchaus Liebespärchen, viele bleiben auf längere Zeit zusammen, einige wenige schwören einen Eid fürs Leben. Da bei den Pärchen immer eine Person weiblich wird und die andere männlich, ist davon auszugehen, dass hier im Hintergrund eine subtile Steuerung der Entwicklung stattfindet. Man kann es natürlich als eine Spielart des Feminismus betrachten, dass Le Guin hier in einem Gedankenexperiment die Frage erforscht, was wäre, wenn das Geschlecht im Leben eines Menschen, für sein Fortkommen im Persönlichen und im Beruflichen, keine Rolle spielt? Man kann es natürlich als eine Spielart des Feminismus betrachten, wenn nicht nur die Frauen einmal im Monat menstruieren, sondern wenn gleich alle (alle zur gleichen Zeit? – Le Guin bleibt hier unklar) ‚rollig‘ werden. Mir aber will das weniger femistisch erscheinen, als vielmehr eine Exploration der Welt der Trans- und Intersexualität, einer Welt, in der es normal ist, dass eine Person sich mal als Frau fühlt und mal als Mann. Und auch mal einfach gar nicht.

Wenig feministisch mutet mich auch die Tatsache an, dass Le Guin als Protagonisten und Ich-Erzähler einen Mann gewählt hat, und der seinerseits sich auf alle Bewohner von Gethen in ihrem neutralen Zustand mit maskulinen Personalpronomen bezieht. Aber vielleicht wäre der Roman mit einer Frau als Protagonistin und femininen Personalpronomen noch schlechter zu verkaufen gewesen. Denn, dass er zu einem derartigen Erfolg würde, war ihm nicht an der Wiege geschrieben.1)

(Ein minderes Rätsel als die Frage nach dem tatsächlichen feministischen Gehalt von The Left Hand of Darkness ist für mich dieses, dass offenbar niemand bisher die Hautfarbe von Genly Ai wirklich zur Kenntnis genommen hat, obwohl der Ich-Erzähler ein paar Mal darauf hinweist: Er ist – zwar nur um ein Weniges, wenig genug, um allenfalls als Spielart eines Menschen aus einer andern Region des Planeten eingestuft werden zu können – er ist also von dunkler Hautfarbe. Was weder für seine Mission noch für die Ekumene eine Rolle zu spielen scheint, auf Gethen aber manchmal Aufmerksamkeit weckt.)

Alles in allem würde ich den Roman weniger als „feministisch“ einstufen, denn als einen Roman über die Freundschaft. Es entwickelt sich nämlich im Laufe der Handlung eine Freundschaft zwischen Genly Ai, dem Terraner, und Estraven, dem Gethenianer. Zu Beginn des Romans sind sich die beiden keineswegs grün; dann aber gelingt es ihnen, sich zusammen zu raufen (nicht zuletzt, weil Ain dem Freund Estraven Telepathie beibringt, eine auf der Erde allgemein zugängliche Technik). Zusammen schaffen sie es, eine bisher für undurchquerbar gehaltene Eiswüste zu bezwingen. Ein Buddy-Roman also, vor allem im letzten Drittel auch ein literarisches Pendant zum Road-Movie.


1)Lange Zeit fand man auf der Homepage von Le Guin die Abschrift eines Briefs eines ungenannten Herausgebers an Le Guins Agentin:

Ursula K. Le Guin writes extremely well, but I’m sorry to have to say that on the basis of that one highly distinguishing quality alone I cannot make you an offer for the novel. The book is so endlessly complicated by details of reference and information, the interim legends become so much of a nuisance despite their relevance, that the very action of the story seems to be to become hopelessly bogged down and the book, eventually, unreadable. The whole is so dry and airless, so lacking in pace, that whatever drama and excitement the novel might have had is entirely dissipated by what does seem, a great deal of the time, to be extraneous material. My thanks nonetheless for having thought of us. The manuscript of The Left Hand of Darkness is returned herewith.

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