Um es im Jargon der Sportjournalist:innen zu schreiben: Mit diesem Roman hat Kim de l’Horizon letztes Jahr (2022) das Double gewonnen – nämlich sowohl den Deutschen wie kurze Zeit später den Schweizer Buchpreis. Kim de l’Horizon begreift sich selber als genderfluide Person. Das bedeutet, so weit ich das verstehe, dass Kim sich manchmal als Männchen und manchmal als Weibchen sieht oder fühlt. (Ob das auch bedeutet, dass Kim sich manchmal als beides zugleich oder auch mal als keines von beiden fühlt, vermag ich, aus Gründen, die ich weiter unten erkläre, nicht zu sagen. Die von mir gelesenen Definitionen von ‚genderfluid‘ würden das jedenfalls einschließen.) Das Thema nicht-binärer Sexualität ist heute in fast aller Munde, und man gilt als chic und aufgeschlossen, wenn man solche Dinge akzeptiert oder propagiert. Die Jurys beider Buchpreise haben aber schon bei Bekanntgabe des Siegerbuchs sofort nachgeschoben, dass der Preis nicht wegen der Genderfluidität der verfassenden Person vergeben wurde, sondern wegen der inhaltlichen und stilistischen Qualitäten, die der Text aufweise, der seinerseits ‚fluid‘ sei – nämlich von einem Thema, einem Stil, problemlos in ein anderes, einen anderen, übergehe. Dies hat meine Neugierde geweckt. Allerdings konnte ich es mir noch verkneifen, das Buch in der Ausgabe des Du Mont-Verlags zu kaufen und habe auf die Lizenzausgabe bei der Büchergilde gewartet.
Mit Blutbuch hat Kim de l’Horizon einen Text geschrieben mit einem Erzähl-Ich, das sich praktischerweise ebenfalls Kim nennt. Darin erzählt Kim die Geschichte seiner Familie, einer Kleinbürgerfamilie mit einem Häuschen in einem Vorort der Stadt Bern. Im Zentrum des Gartens dieses Häuschens, im Zentrum der Familie, im Zentrum des Buchs steht nun eine – Blutbuche. (Ein zu erwartender und etwas billiger Zug, der dem Buch aber wohl viel Good Will von der Literaturkritik gebracht hat.) Dass die Blutbuche dann nicht nur zum gerade zu schreibenden Buch in Beziehung gebracht wird, sondern auch zum Buchstaben als solchem, versteht sich von selbst. Die Buche – bzw. ihr Stamm – wird aber auch zum Symbol (oder ist’s eine Allegorie?) des Stammbaums der Familie, denn unser Erzähl-Ich macht sich im Lauf des Buchs auf, die Blutlinien (seufz! ja, auch das …) seiner Vorfahren zu verfolgen. Der väterliche Stammbaum ist relativ rasch aufgefunden, den mütterlichen findet es erst im Lauf der Geschichte, wo sich herausstellt, dass seine Mutter den tatsächlich ebenfalls schon gesucht und erstellt hat.
Der Text ändert in bester postmoderner Manier immer mal wieder Stil und Inhalt. Davor, Passagen in Pseudo-Schreibmaschinenschrift einzufügen (Auszüge aus dem mütterlichen Blutbuch), schreckt Kim de l’Horizon so wenig zurück, wie davor, bereits erzählte Passagen über die zunehmende Demenz der Großmutter rückgängig zu machen und als Erzähltrick zu entlarven, weil das Erzähl-Ich nur dann über diese Frau schreiben könne, wenn es sie von sich weg in eine Art geistiges Niemandsland drückt. Kim de l’Horizon schreckt auch nicht davor zurück, sich das Erzähl-Ich gleich darauf von dieser Großmutter erneut distanzieren zu lassen, indem es ihr nun Briefe auf Englisch schreibt – einer Sprache, die sie gar nicht spricht und die auch Kim nur passiv gelernt hat (u.a. durch die Lektüre des Herrn der Ringe im Original). Diese Briefe sind – es wird im Buch behauptet, durch DeepL – am Schluss des Buchs übersetzt und rückläufig eingefügt worden. Man sieht: Kim de l’Horizon kennt die Kniffs und zieht alle Register. Ich will dem Buch zu Gute halten, dass das sehr gut gemacht ist, unauffällig und routiniert – für einen Erstling tatsächlich sehr routiniert.
Am besten gelungen von all diesen Dingen ist der Anfang des Romans, wo das kleine Kind, das sich später Kim nennen wird, von zwei mächtigen Feen oder Hexen bedroht fühlt – einer Feuerhexe (der Großmutter) und einer Eishexe (der Mutter), die beide gegeneinander kämpfen, aber auch gegen das Kind. Diesem – weil seine eigenen Gegenzauber zu schwach sind – bleibt nur, sich des Schutzes der Blutbuche zu versichern. Hier gelingen Kim de l’Horizon Bilder, die an die großen Texte des Magischen Realismus aus Südamerika erinnern.
Wir finden übrigens auch ein Pastiche auf die Registerarie des Leporello, als das Erzähl-Ich aufzählt, welche Männer es durch seine Schwulen-Dating-App alle kennengelernt hat und in der unmittelbaren Folge gern und detailliert schildert, wie seine Sexualpartner ausgesehen haben und welche Art von Sex sie am meisten mochten. Hier verwendet es obszönste Begriffe. (Auch das wird ihm bei der Kritik geholfen haben; man kann sich so offen und liberal fühlen, wenn man solche Passagen akzeptiert. Dass dieser Liberalität arge Grenzen gesetzt sind, zeigt eine Kritik, die ich gelesen habe, und in der mit wohligem Schauer erwähnt wird, dass wir sogar – nein, selbst vor dem Wort ‚Analverkehr‘ schreckt sie dann zurück – Popo-Sex finden …
Spätestens aber bei der Registerarie sollte es aber dem aufmerksamen Publikum dämmern: Kim de l’Horizons Sprache ist alles andere als fluid. Sie ist ausgesprochen körperlich, festkörperlich sozusagen. Das Aussehen der Dinge, der Menschen, wird ausführlich beschrieben. Ins Innere aber dringen wir weder beim Erzähl-Ich vor, noch bei den übrigen Protagonisten. Selbst dort, wo über die Sprache als solche gesprochen bzw. geschrieben wird, ist es immer der Sprachkörper, der Wortschatz, der gemeint ist.
Und ich bin nicht einmal sicher, ob nicht diese Körperlichkeit letzten Endes zwei nicht-intendierte Folgen hat. Zum einen glaube ich, dass die Homosexuellen in der Schweiz und in Europa keine Freude haben dürften am Bild, das Kim de l’Horizon von ihnen überliefert. Alle Homosexuellen in diesem Buch sind auf schnell arrangierte und schnell konsumierte Sex-Dates aus. Längerfristige Beziehungen oder Gefühle? Fehlanzeige. Eine solche Szene existiert, dessen bin ich mir sicher. Sie existierte ja schon vor mehr als 50 Jahren in Rom, als der sich endlich zu seiner Homosexualität bekennende Schweizer Autor Kuno Raeber die dortigen Dark Rooms frequentierte.
Die andere Konsequenz trifft das Erzähl-Ich selber. Da wir auch bei ihm im Körperlichen bleiben, erfahren wir nie, ob und welche Probleme seine Genderfluidität erzeugt hatte. Wir sehen eine Mutter, die das akzeptiert, und eine Großmutter, die sogar erlaubt, dass das kleine Kind auch mal die Mädchenkleider ihrer jung verstorbenen Schwester trägt. Ein Backlash, der dann auch die Genderfluidität als solche trifft, zumindest aber die des Erzähl-Ichs: Was ist Genderfluidität hier anderes als Homosexualität, die einfach nur einschließt, dass sich die betreffende Person den ganzen Körper rasiert, sich von Zeit zu Zeit schminkt und von Zeit zu Zeit Frauenkleider trägt? Denn Sex mit einer Frau hat dieser Kim im ganzen Buch nicht.
Auf dem Schmutzblatt steht, Kim de l’Horizon sei im Jahr 2666 auf Gethen geboren. Damit wird natürlich auf Ursula K. Le Guins Roman The Left Hand of Darkness angespielt. Dort wird das Leben auf einem Planeten namens Gethen geschildert. Das Spezielle der dort lebenden Menschen habe ich bei der Vorstellung des Buchs von Le Guin folgendermaßen skizziert:
Auf Gethen sind die Menschen die meiste Zeit sexuell inaktiv. Nur einmal im Monat, während einer Zeit, die sie Kemmer nennen, werden sie aktiv. Und nur in dieser Zeit bilden sie auch die dazu notwendigen primären und sekundären Geschlechtsmerkmale aus. Das Neutrum wird zu einem Mann oder zu einer Frau. Keines weiß im Voraus, ob es diesen Monat männlich oder weiblich sein wird. Jedes kann gegebenenfalls Kinder zeugen oder Kinder kriegen.
Le Guins Bild von der Menschheit auf Gethen ist doch ein völlig anderes als was Kim de l’Horizon uns vorführt. Vielleicht ist die Autofiktion des Romans ihrerseits Fiktion, und Kim de l’Horizon lebt privat ganz anders. In Blutbuch sind zwar ein paar ganz gute Passagen gelungen, aber die Hauptfigur Kim bleibt uns ebenso fremd wie alle anderen. Die Vorschusslorbeeren, die die Kritik mir ausgestreut hat, hängen zu hoch. Uns wird in routiniert komponierten Abschnitten ein sexuell hyperaktiver, schwuler Transvestit mit seinen Eroberungen präsentiert – die von der Kritik so hoch gelobte Fluidität finde ich weder inhaltlich noch formal. In beiden Fällen bleibt Kim de l’Horizon im Körperlichen hängen.
Fazit: Ich habe schon schlechtere Bücher gelesen, die den Deutschen Buchpreis (oder den Schweizer, quant à ça) gewonnen haben. Aber Blutbuch ist nichts, was man gelesen haben muss.
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