Von einem, der auszog, das Gruseln zu lehren…
Konrad möchte gerne Dirigent werden. (Eigentlich wollte er Pianist werden, aber er ist Allergiker, und seine häufigen Niesattacken bewogen ihn dazu umzusatteln.) Zu Beginn des Romans treffen wir ihn, wie er gerade von Wien nach Berlin umgezogen ist, um an der Berliner Universität seine entsprechende Ausbildung weiter zu führen. Wir begleiten ihn auf seinen Streifzügen durch die Stadt, während er auf die Antwort auf sein Zulassungsgesuch wartet. Er wird nie eine erhalten, und das Geld geht ihm aus. Am Ende des Romans arbeitet er in einem Zoofachgeschäft, wo er Regale auffüllt.
So zusammengefasst, klingt die Geschichte banal. Aber bei diesem Roman von Günther Freitag ist das ‚Skelett‘ der Story, wenn ich so sagen darf, zweitrangig. Nicht was der Ich-Erzähler Konrad erzählt ist wichtig, sondern wie er es erzählt. Denn die Welt, in der Konrad lebt, ist voller mehr oder weniger seltsamen Gestalten. Sein Professor in Wien hat mit den Studenten nicht Partituren durchgenommen – für ihn war es wichtig, mit welcher Frisur und welchen Schuhen der Dirigent den Orchestergraben betritt. Und da es vom Wort „Orchestergraben“ nicht weit zum „Grabenkampf“ ist, sollte der Student auch wissen, wie er sich vom Eingang dieses Grabens zu seinem Pult durchzukämpfen hatte. Deshalb verlegte der Professor eine Stunde in den dunklen Abstellraum des Konservatoriums, wo die Studenten sich ohne Licht von der Tür bis zu ihm durchzuschlagen hatten – an diversen abgestellten Flügeln und andern Instrumenten vorbei. Konrad heult bei seinen Niesattacken auch nicht einfach Rotz und Wasser, wie es andere Allergiker zu tun pflegen: Was ihm aus den Augen tränt und aus der Nase fließt, ist ein dicker, zähflüssiger Schleim, vor dem es seiner Umwelt einfach nur ekelt. Ein Dasein als Klavierlehrer wird so sehr schwierig…
Dem Autor erlaubt Konrads skurrile Sicht auf die Welt, eine bissige Satire auf den ‚Kulturbetrieb‘ einzuflechten. Beim Versuch, das Berliner Konservatorium zu besuchen – es ist noch Ferienzeit – wird er von einem Hausmeister angehalten. Der hält ihn aber dann für den neuen finnischen Assistenzprofessor und lädt ihn zu sich nach Hause ein. Dort erfährt Konrad von dessen Frau, dass der vermeintliche Hausmeister nur ein Ex-Hausmeister ist. Er wurde nämlich entlassen, weil er einen Diebstahl nicht verhindert, ja vielleicht sogar begünstigt hatte. Um sich bei Konrad wieder lieb Kind zu machen, verspricht der Ex-Hausmeister ihm, jenen Taktstock zu besorgen, den einst Alban Berg dem großen Gustav Mahler stibitzt habe. (Denn Mahler ist Konrads Leibkomponist. Immer und immer wieder studiert er die Partituren zu dessen Symphonien.) Natürlich wird daraus ebenso wenig wie aus Konrads Studium in Berlin.
Auch sonst zeigt sich die ‚Kultur‘ von einer merkwürdigen Seite. Da ist Konrads Tante, bei der er in Berlin lebt, weil’s billiger kommt, und die selber eine Art Statuen gestaltet. Es ist ihr gelungen, für eine Vernissage einen ‚Kulturdezernenten‘ zu gewinnen. Zwar kann der in seiner Rede ihren Namen nicht einmal richtig vom Blatt ablesen (vielleicht ist er auch da schon falsch geschrieben), aber das ist nicht wichtig. Wichtiger als der Kulturdezernent ist der Journalist, der eine Berichterstattung verspricht. Der Kulturdezernent zieht sich lieber an die Bar des Cafés zurück, in dem die Vernissage stattfindet, um dort bei einem Glas Wein mit einem Kollegen über die Geschwindigkeit ihrer Autos und ihre Qualitäten als Fahrer zu reden. (Mit der Berichterstattung ist es dann auch so eine Sache: Der Bericht ist winzig klein, und der Name der Künstlerin fehlt darin.)
À propos Familie: Sie besteht aus Konrads Vater, einem ziemlich erfolgreichen Rechtsanwalt, seiner Mutter und seinen beiden Schwestern. Der Vater hat seinen Sohn schon längst abgeschrieben. Der musisch Veranlagte ist das sprichwörtliche schwarze Schaf, mit dem eine Familie zu rechnen hat. Das hindert den Vater nicht daran, seinen Sohn mit Worten herunterzumachen, wo und wann er nur kann. Die Mutter würde zwar zum Sohn halten, ist aber zu schwach, um sich dem Patriarchen entgegen zu stellen. Die beiden Schwestern sind nach dem Vater geraten. Sie haben die Rechte studiert und sind vom Vater als Nachfolgerinnen für seine Anwaltspraxis vorgesehen. Ich weiß nicht, ob Günther Freitag auch mit Konrads Familie groteske Verhältnisse schildern wollte. Diese Familie wirkt auf jeden Fall in der ganzen skurrilen Welt Konrads verblüffend ‚echt‘. Es gibt sie, gibt sie zuhauf, diese dysfunktionalen Familien. Ein Vater muss nicht unbedingt physisch gewalttätig werden, verbale Gewalt, wie in Konrads Fall, genügt auch, um einen Menschen kaputt zu machen.
Konrad ist allergisch auf Hundehaare. (Was seine Arbeit in einem Zoofachgeschäft etwas kompliziert macht.) Er ist aber im Grunde genommen allergisch auf die ganze Welt – sobald und sofern sie Ansprüche an ihn stellt und er die Ereignisse nicht unter Kontrolle hat. Und das hat er selten genug. Wir kennen ähnliche groteske Figuren, die sich von den Ansprüchen der Welt bzw. der Väter oder Mütter, zurückziehen, zum Beispiel vom Schweizer Gerold Späth. Unschlecht oder Balzapf sind solche skurrilen Figuren, die sich in eigene, skurrile Welten zurück gezogen haben. Der Unterschied ist genau der: Bei Späth separieren sich die grotesken Gestalten von der übrigen, ’normalen‘ Welt und verkriechen sich in eine eigene. Konrad hingegen stülpt seine groteske Welt der ’normalen‘ Welt über. Das kann auf Dauer nicht gut gehen – denn die ’normale‘ Welt verfügt bei Freitag durchaus über ihren eigenen Überlebenswillen. Es kommt, wie es kommen muss, und die Situation eskaliert. Konrad, im Geschäft von zwei Hunden in die Enge getrieben, wehrt sich handgreiflich.
Erst als ich eine Polizeisirene hörte und kurz darauf vor dem Ladeneingang eine Funkstreife hielt, stellte ich mein Bombardement ein und wusste, ich war gerettet.
Nur einer wie Konrad kann sich für gerettet halten, wenn ihn die Polizei abholt…
Es ist schwierig, den grotesken Gestalten und Situationen in Freitags Roman gerecht zu werden. Der Roman liest sich gut und vergnüglich – über weite Strecken eine herrliche Satire auf den Kultur’betrieb‘. Den Literaturnobelpreis wird Günther Freitag damit nicht gewinnen. Aber der wird sowieso überschätzt.
Günther Freitag: Mahlers Taktstock. Klagenfurt: Wieser, 2019.
Wir danken dem Verlag dafür, uns ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt zu haben.