Natürlich ist die evolutionäre Erkenntnistheorie auch in diesem Buch von herausragender Bedeutung. Doch schon im ersten Beitrag geht Vollmer auf die „Unvollständigkeit“ der Evolutionstheorie ein, auf die zum damaligen Zeitpunkt diskutierte Makroevolution (vor allem durch Gould vertreten), auf das – vermeintliche – Fehlen von Zwischenformen oder auch auf die vom Autor so bezeichneten „Doppelfunktionen“ (heute ist es eine Selbstverständlichkeit, dass man keine Gene für ein ganz bestimmtes Merkmal annimmt, sondern Gene, die in Zusammenarbeit mit anderen Genen eine ganze Reihe von phänotypischen Ausprägungen bewirken). Über die Komplexität einzelner Organe (insbesondere das Auge wurde für Evolutionskritiker ein beliebtes Beispiel) gibt es mittlerweile unzählige Publikationen, wobei sich – Ironie der Geschichte – gerade das Auge bzw. dessen Entwicklung evolutionär ganz wunderbar nachvollziehen ließ (Augen in verschiedenster Form wurden mehr als 20 Mal von der Evolution entworfen).
Andere Beiträge beschäftigen sich mit prinzipiellen, methodologischen Problemen: Etwa der Kausalität und in ihrem Zusammenhang mit der Willensfreiheit bzw. mit der „Kausalität des Geistes“, mit der Frage, ob es eine Wissenschaft von einmaligen Ereignissen geben könne (wie etwa dem Urknall), dem Leib-Seele-Problem (das nur ein Problem ist für denjenigen, der zu einem supernaturalistischen Ansatz neigt und dann ob des Geist-Phänomens vor scheinbar unlösbaren Problemen steht, Problemen, die „wunderbaren“ Denkansätzen grundsätzlich zueigen sind und deren Ursache in dieser Form der Lösung liegt, nicht in der Fragestellung), der Schwierigkeit einer anschaulichen Darstellung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse (die aus unserer evolutionären Ausstattung – ausgerichtet auf dem Mesokosmos – resultiert), der Möglichkeit einer Einheitswissenschaft (in Verbindung mit dem Reduktionismus), deren Ablehnung entweder auf dem schon erwähnten Supernaturalismus oder aber auf einer vorgeblichen, undurchschaubaren Komplexität beruht (letztere kann ein solches Programm tatsächlich verhindern; allerdings zeigt die Erfahrung, dass so manche, schon als aussichtslos angesehene Problemstellungen, eine überaus zufriedenstellende Lösung erfuhren).
Das letzte Kapitel nennt sich „Kopf und Computer“ und zeugt von großer Weitsicht des Autors: Es nimmt viele Diskussionen über die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz vorweg, zeigt aber auch unsere beschränkt-anthropozentrische Sichtweise (wenn wir etwa Geist stets so zu definieren versuchen, dass einzig ein zweibeiniges Säugetier auf diesem Planeten in die Verlegenheit kommt, als geistvoll angesehen zu werden). Bei der Entwicklung von KI stößt man ganz von selbst auf moralisch-ethische Probleme und auf den naturalistischen Fehlschluss: Da uns die bloße Möglichkeit, etwas tun können, nicht von der Frage befreit, ob man derlei auch tun soll, müssen wir uns den mit dem Fortschreiten der KI verbundenen ethischen Implikationen auseinandersetzen. Normen können aus dem Sein (oder der Machbarkeit) nicht abgeleitet werden, allerdings dürfte es schwierig werden, einen für alle verbindlichen Konsens in dieser Frage herzustellen. (Ich persönlich bin zwar von der enormen Bedeutung der KI für unsere Zukunft überzeugt, allerdings weniger skeptisch – was die Folgen betrifft – als etwa Nick Bostrom und sehe diese (im übrigen schon öfter) prognostizierte Machtübernahme der Computer in naher Zukunft noch nicht über uns hereinbrechen). – Insgesamt ein wunderbares, anregendes Buch, das trotz seines Erscheinungsdatums fast nichts von seiner Aktualität verloren hat.
Gerhard Vollmer: Was können wir wissen? Bd 2. Stuttgart: Hirzel 1986.