Philip Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent

Dieses Buch ist 2014 erschienen und dadurch schon wieder teilweise überholt. Es analysiert (hauptsächlich) die Revolutionen in Osteuropa von 1989 und die anschließenden politischen und wirtschaftlichen Bemühungen um eine Integration dieser Länder in den europäischen Wirtschaftsraum als auch die dabei angewandten Methoden (es wurden hauptsächlich neoliberale Ideen umgesetzt, allerdings teilweise mit entsprechenden Einschränkungen in Bezug auf die soziale Absicherung der Bevölkerung).

Nach nunmehr 30 Jahren ist man sich kaum noch dessen bewusst, was dieser Umsturz vor allem für die Menschen im ehemaligen Ostblock bedeutet hat. Denn nach der kurzen Freiheitseuphorie hat schon bald darauf die wirtschaftliche Realität die Bürger eingeholt: Das BIP aller Länder brach um bis zu 30 % ein, die Geldentwertung hatte zur Folge, dass kaum noch jemand von den staatlichen Einkommen leben konnten, der Schwarzhandel blühte, Uni-Professoren mussten ebenso Nebenjobs annehmen wie unzählige andere Staatsbedienstete und für einige Zeit kam es zu einer Renaissance der kleinen Gemüsegärten, die das Überleben sicherten oder auch die Produkte für einen kleinen Handel bereitstellten. Für Russland hat diese Stimmung, dieses Leben vielleicht niemand besser beschrieben als Svetlana A. Aleksievic, diese Beschreibung dürfte aber mutatis mutandis auch auf viele andere Länder im Osten zutreffen.

Ther versucht vor allem eine wirtschaftspolitische Analyse – und genau darin liegt auch die Schwäche des Buches. Viele der aufbereiteten Daten vermitteln nur sehr bedingt (und theoretisch) die Probleme der Transformationen im östlichen Europa. Nachdem der Staatssozialismus offenbar Schiffbruch erlitten hatte, schien als einzige politisch-ökonomische Alternative nur noch der Neoliberalismus übrig zu bleiben. Im Sinne des Washington Consensus (der eigentlich ein Programm für die lateinamerikanischen Staaten darstellte – und schon dort nicht wirklich funktionierte) wurde den Ländern ein Sparprogramm übergestülpt, das vor allem zu Beginn fatale Auswirkungen hatte und schon bei den zweiten freien Wahlen in vielen Ländern die so sehr geschmähten Sozialisten wieder an die Macht brachte. Alle keynesianischen Ansätze wurden als verfehlt angesehen (und konnten aufgrund der maroden Finanzlage auch nicht durchgesetzt werden, gerade weil IWF und Weltbank ihre Unterstützungen von neoliberalen Programmen abhängig machten*).

Ther verfolgt diese neoliberale Politik über die ersten 25 Jahre, seine Beschreibungen sind aber einigermaßen blutleer und verbleiben weitgehend im deskriptiven Modus. So sind die Vergleiche der großen Städte des ehemaligen Ostblocks anhand von BIP (oder Durchschnittsverdiensten) oft mehr als fragwürdig (was er manchmal auch selbst einräumt): Man kann Berlin nicht einfach unter diese östlichen Metropolen subsumieren, muss auf ortsspezifische Problematiken eingehen (die Prager Wohnungspolitik verfolgte gänzlich andere Ziele als etwas die gesamtdeutsche in Berlin, wodurch Einkommensvergleiche nichtssagend werden), andere Länder (wie Albanien) finden hingegen kaum jemals Erwähnung (oder nur zur Untermauerung von ein wenig zweifelhaften Thesen). Interessant hingegen waren seine Vergleiche der wirtschaftlichen Probleme von Osten und Süden Europas (bzw. der Frage, ob der Süden zum neuen Osten würde): Aber während man Griechenland noch radikale Sparmaßnahmen verordnen konnte, wird dies beim sehr viel größeren Problemfall Italien nicht gelingen. Und angesichts der überbordenden Staatsschulden und einer völlig inkompetenten Regierung ist hier eine Lösung weit und breit nicht in Sicht. Der theoretische Ansatz: Italien muss vor allem den jungen und gut ausgebildeten Menschen eine Perspektive bieten, die Chance auf wirtschaftlichen Aufstieg (als Unternehmer aber auch als Angestellte des Staatsdienstes oder in der Wirtschaft). Das genaue Gegenteil ist der Fall: Kaum jemand der unter 35jährigen zahlt in Italien aufgrund des geringen Einkommens Steuern, viele leben zu Hause und eine nicht unerhebliche Zahl der gut ausgebildeten Jungen verlässt das Land (die Bevölkerungszahl nimmt nirgends so stark ab wie in Italien). Wer bleibt, ist zumeist auf die finanzielle Unterstützung der Familie angewiesen, Stellen sind häufig nur über Nepotismus zu erhalten.

Eine andere, prägnante Analyse gelingt Ther zur Ukraine: Er weist völlig zu Recht darauf hin, dass die EU 2004 nach der „orangen Revolution“ das Land ohne eine vernünftige Perspektive gelassen hat, wodurch es für den Rest Europas als potentieller Investitionsstandort an Reiz verlor. Dadurch ging das Land fast einen ähnlichen Weg wie der russische Nachbar: Es wurde (und wird) von Oligarchen beherrscht (die im übrigen kein Ausdruck einer neoliberalen, sondern einer stark von der staatlichen Macht abhängigen Politik sind; nur mit Unterstützung dieses Staates konnten diese Pseudomonopole entstehen – oder zerschlagen werden wie im Falle von Chodorkowski in Russland) und hat diesen Weg schließlich mit einer zweiten Revolution (und zahlreichen Toten) bezahlt, auch der Einmarsch Russlands in die Ostgebiete bzw. die Besetzung der Krim wären wahrscheinlich verhindert worden, wenn 2004 dem Land ein Assoziierungsvertrag angeboten worden wäre). Dass Ther außerdem die demokratischen Strukturen in den Visegrad-Staaten sehr viel positiver bewertet hat (als man sie heute beurteilen würde), mag einem verqueren Optimismus geschuldet sein; derzeit aber geben alle diese Länder großen Anlass zur Sorge und werden von einem autokratischen Weg einzig durch die (starke finanzielle) Bindung an die EU abgehalten. – Eine ansprechende, auch lohnende Lektüre, die sich aber zu oft in reinen Zahleninterpretationen verliert und in Teilen ein wenig strukturlos wirkt.


*) Eine ähnliche Problematik erlebt derzeit der Süden Europas (was von Ther recht ausführlich behandelt wird) – und scheint ähnliche Auswirkungen zu zeitigen (nämlich ein Erstarken des Rechtspopulismus und des Nationalismus). Hier aber verdient Portugal besondere Erwähnung: Diese Regierung hat sich nicht an die äußerst strikten Sparvorgaben gehalten und damit sehr viel mehr Erfolg gehabt als etwa Griechenland. Die Sinnhaftigkeit von Sparmaßnahmen steht dabei nicht in Frage: Aber einzig Austeritätsprinzipien zu huldigen scheint noch nicht mal ökonomisch sinnvoll zu sein – ganz abgesehen von den gesellschaftspolitischen Konsequenzen.


Philip Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014.

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