Kurt Bayertz: Der aufrechte Gang

Lachen, Denken, Sozialverhalten und vieles mehr: Das Spezifische des Menschen wird allerorten gesucht. Und während wir uns biologisch grosso modo kaum von unseren Artverwandten unterscheiden, ist da doch das Merkmal des aufrechten Ganges, das ein Kriterium der Menschwerdung darstellen könnte. Aber so ganz sicher ist das dann auch nicht.

Bayertz beginnt seine Suche nach Hinweisen auf das Alleinstellungsmerkmal „aufrechter Gang“ bei Platon: Und findet dort eine häufig wiederholte, vor allem in religiösen Kreisen hoch angesehene Meinung. Denn wir tragen den Kopf hoch, um nach noch Höherem, nach dem Himmel zu sehen, zu den Sternen und dem dort vermuteten göttlichen Wesen. Dies entspricht auch der hierarchischen Stufung des menschlichen Körpers bei Platon: Im Kopf die Vernunft als die entscheidende Instanz, in der Brust der Mut und in den tieferen Regionen die eher verächtliche Emotion, die Lust. Dass derlei Gewichtung im Christentum auf positive Resonanz stieß (insbesondere bei jenen – wie Augustinus – die offenbar Zeit ihres Lebens sich stark von ihrem Unterleib beeinflusst sahen) liegt auf der Hand.

Auf diese Weise arbeitet sich Bayertz durch die Jahrhunderte, analysiert die biblischen Motive (vermischt mit heidnischen Überlieferungen), liefert im letzten Teil eine semantisch-etymologische Untersuchung des „Aufrechten“ (wie denn schon Bernhard von Clairvaux den Widerspruch eines aufrechten Leibes und einer krummen Seele angesprochen hat – ohne sich dabei selbst zu meinen, wozu er doch einiges Recht gehabt hätte), erwähnt natürlich auch das krumme Holz Kants, aus dem der Mensch geschnitzt sei und bei dem deshalb nur schwer eine aufrechte Gesinnung zu erwarten sei; er beschreibt aber auch den langsamen Weg von der geisteswissenschaftlichen zur naturwissenschaftlichen Interpretation im Laufe der Neuzeit, als plötzlich u. a. physiologische und pragmatische Erwägungen in Betracht gezogen wurden (das Freiwerden der Hände scheint zu einem wechselseitigen Einfluss von Werkzeuggestaltung und Gehirnentwicklung geführt zu haben). Die Abwendung von einem Schöpfermythos führt denn auch zu Überlegungen, die bis ins 19. Jahrhundert (und auch noch später) misstrauisch beäugt wurden, eröffnet doch ein solcher Gedanke die Möglichkeit, dass der aufrechte Gang ein rein kontingentes Merkmal sein könnte, dessen Entstehung keineswegs zwangsläufig zu dem hat führen müssen, was wir nun als Homo sapiens vor uns haben (während teleologische Interpretationen zuvor gang und gäbe waren).

Das gesamte Buch ist eine wunderbar zu lesende Kultur- und Philosophiegeschichte des „aufrechten Ganges“, in dem der Autor durch profunde Sachkenntnis, gediegene Sprache und feinem Humor besticht. Häufig belässt er es bei deskriptiven Darstellungen der manchmal kurios anmutenden Auffassungen (die Passagen über Sigmund Freud scheinen durchgehend eine solch implizite Ironie zu enthalten), immer aber ist der Text äußerst informativ und auf geistreiche Art unterhaltsam. Ich habe das Buch von der ersten bis zur letzten Seite genossen, mich amüsiert und an zahlreichen, mir bislang unbekannten Details erfreut. Philosophische Naturgeschichte vom Feinsten.


Kurt Bayertz: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens. München: Beck 2012.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert