Während Dawkins‘ andere Bücher zumeist für den „gebildeten Laien“ (wer immer das ist) geschrieben waren, ist der „Erweiterte Phänotyp“ ein Fachbuch. Es ist keine einfache Lektüre, aber ich würde Daniel Dennetts Aussage im Nachwort unterschreiben, dass „Dawkins Stil so elegant und klar [ist], dass auch Nichtfachleute, die bereit sind, ihr Gehirn etwas kräftiger anzustrengen, den Argumenten folgen und die Feinheiten der Sachverhalte würdigen können.“
Das zentrale Theorem des erweiterten Phänotyps wird von Dawkins wie folgt umschrieben: „Das Verhalten eines Tieres tendiert zur Maximierung des Überlebens der Gene ‚für‘ dieses Verhalten, unabhängig davon, ob diese Gene sich innerhalb des Körpers des Tieres, welches das Verhalten ausführt, befinden oder nicht.“ Darin steckt die konsequente Fortführung des Gedankens über das „egoistische Gen“, über jene für Dawkins grundlegende Replikationseinheit, die die Selektion auf Individual- bzw. Gruppenebene (E. O. Wilson) ersetzen soll. Dabei verwendet er das Bild des kippenden Neckar-Würfels, um die neue Sichtweise zu illustrieren: Wenn das Gen der entscheidende Replikator und dabei der Auslese ausgesetzt ist, stellt sich nicht mehr die Frage, was dieses Gen für den Organismus zu leisten imstande ist, sondern weshalb sich dieses Gen eines (schließlich erweiterten) Phänotyps für seine Fortexistenz bedient. Der Phänotyp ist das Vehikel und die Maximierungsstrategie kann über diesen hinausreichen – in die Umwelt (die vom Individuum zu seinem (besser – dem Vorteil des Gens) abgeändert wird), durch Einflussnahme auf Parasiten, auf andere Mitglieder der eigenen aber auch auf solche der fremden Art. Bei einer solchen Erweiterung besteht allerdings die Gefahr, sich im Grenzenlosen zu verlieren: Dem beugt Dawkins dadurch vor, dass nicht jede zufällige Änderung der Umwelt diesem erweiterten Phänotyp zuzurechnen ist, sondern nur jene Maßnahmen, die vorteilhaft für das Überleben bzw. die Reproduktion des Gens sind.
All das wird mit einer Unzahl hervorragend ausgewählter Beispiele aus der Tierwelt belegt, wobei besonders die Stringenz seiner Argumentation besticht. Seine Gedankenexperimente gehören zum Originellsten und erinnern an die kreativen Kämpfe zwischen Einstein und Bohr in der Quantenphysik. Auf faszinierende Art und Weise eröffnen sich dabei neue und überraschende Betrachtungsweisen, die diesem „Umspringen“ des Bildes beim Neckarwürfel gleichen: Der Blick ändert sich und viele, mit der herkömmlichen Individualauslese verbundene Probleme lösen sich auf stupende Weise. Und da wir durch das Phänomen des erweiterten Phänotyps mit unserer physikalischen und biologischen Umwelt eng verbunden sind (man denke nur an die unzähligen Parasiten, welche wir auf der Haut und im Darm spazieren tragen), stellt sich die grundsätzlich Frage nach den Grenzen des Organismus, seiner Beständigkeit, seinen Ausprägungen (eine Frage, die die Philosophie – etwa Mach – unter anderen Voraussetzungen, aber mit ähnlichen Erwägungen, schon vor über 100 Jahren gestellt hat). Unsere Individuationsprinzipien werden durch die Erkenntnisse der Biologie noch fragwürdiger als sie es vordem – durch die Physik bestimmt – je waren.
Dazu gibt es zahlreiche Bereiche, deren Problematik mehr-weniger ausführlich abgehandelt werden und die allesamt die Aufmerksamkeit fesseln: Handelt es sich bei ungeschlechtlicher Fortpflanzung überhaupt um „richtige“ Fortpflanzung oder aber ist eine solche nicht sehr viel eher mit Wachstum vergleichbar (besteht ein sich ausbreitender Algenteppich aus Zellen oder Individuen)? Wann kann ein Gen überhaupt als ein Gen „für“ eine bestimmte Ausprägung betrachtet werden? Wenn A die Schwarzfärbung bewirkt, aber nur durch B ausgelöst werden kann (und nicht durch sein Allel B‘), wobei diese Folge sich weiterspinnen lässt nicht nur im Bereich des individualen Chromosomensatzes, sondern – z. B. auch auf Parasiten angewandt werden kann – die dann die Ab- oder Anschaltung von A, B oder C (ad infinitum) bewirken – wer ist dann tatsächlich für die Schwarzfärbung entscheidend? Dazu kommen Ausführungen zu der enorm wichtigen Problematik, wann denn ein bestimmtes Verhalten zu einer ESS (evolutionär stabilen Strategie) werden kann oder der Entstehung von untereinander kompatiblen Gensätzen, die sich gegenseitig stützen.
Und noch eine Streitfrage wird en passant abgehandelt: Jene oft verqueren Feststellungen, die mit dem vermeintlichen Determinismus der Gene verbunden seien. Dawkins stellt zu Recht klar, dass es sich immer um Kausalitäten handelt, die ein bestimmtes Verhalten auslösen, ein Talent bewirken, dass aber – egal wodurch der Konnex hergestellt wird – stets auch gegengesteuert werden kann (unabhängig davon, ob nun Gene oder Umwelt für die Disposition verantwortlich sind). Auch wenn die Vererbung eines Gens ein unabänderliches Schicksal sein kann, seine Auswirkungen sind es keineswegs (sie sind es nicht mehr als bei einem Umwelteinfluss). Dies mag auf die zumeist unglückliche Formulierung des „Programmierens durch die Genetik“ bedingt sein, die diese Unausweichlichkeit suggeriert. – Das Buch ist jedenfalls eine wahre Fundgrube an Ideen und geistreichen Überlegungen, auch wenn (oder weil) es vom Leser immer die volle Aufmerksamkeit verlangt – und es sollte in keiner Bibliothek, die auf sich hält, fehlen. Dies war sicher nicht meine letzte Lektüre des „Erweiterten Phänotyps“.
Richard Dawkins: Der erweiterte Phänotyp. Der lange Arm der Gene. Heidelberg: Spektrum 2010.