Carel von Schaik, Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät.

Die beiden Autoren unterziehen die Bibel einer Analyse aus anthropologischer Sicht: Und werden fast überall fündig. Die Bibel, losgelöst von ihrem theologischen Gehalt und dem Anspruch der Göttlichkeit, birgt nach ihrer Ansicht einen Schatz an Erkenntnissen, der nur gehoben werden muss.

Der Sündenfall der Menschheitsgeschichte liegt in der Abkehr von einem Jäger- und Sammlerleben zu einem von der Landwirtschaft geprägten, sesshaften Dasein (hier folgen van Schaik und Michel weitgehend Jared Diamond). Diese Änderung ist fundamental: Sie betrifft das

– Sozialverhalten (Gruppen von bis zu 50 Personen bedürfen keiner hierarchischen Struktur – oder nur in Ansätzen; moralische Regeln sind weitgehend selbstevident, ihre Einhaltung ist aufgrund der Gruppengröße für jeden von größter Bedeutung und wird permanent überwacht; Regelungen wie „Du sollst nicht stehlen“ sind in solchen überschaubaren Gruppen überflüssig, da es weder viel Besitz gibt (aufgrund der nomadischen Lebensweise) und Diebstahl in einer Gruppe, in der jeder jeden kennt – wenig sinnvoll wäre, weil diese Dinge gar nicht verwendet werden könnten ohne zur Entdeckung des Betreffenden zu führen)

– die Physiologie (die Menschen waren vermehrt Krankheitserregern ausgesetzt, die aufgrund des engen Zusammenlebens sehr viel mehr Schaden anrichten bzw. die erst aufgrund der Haustierhaltung (und den entsprechenden Mutationen der Erreger) auf die Menschen übergreifen konnten; wegen der einseitigeren Ernährung nahm die Körpergröße nachweislich ab, was den Frauen eine schmerzhaftere Geburt bescherte, für die in der Bibel der paradiesische Sündenfall verantwortlich zeichnet)

– und führt zu einer Missachtung des Egalitätsprinzips, da nun erstmals reiche und mächtige Herrscher einen bevorzugten Zugriff auf die zur Verfügung stehenden Resourcen hatten.

Für all das finden die Autoren in der Bibel zahlreiche Belege, indem sie die unzähligen Regelungen der Tora als eine Notwendigkeit betrachten, die die neue Lebensweise erfordert. Landwirtschaft bedeutet Besitz (mit den entsprechenden Regelungen), hat die Primogenitur zur Folge (um den Besitz nicht unter zu vielen zu zerstreuen), führt zur Unterordnung der Frau (während die Autoren für das Jäger- und Sammlerleben eine relative sexuelle Freizügigkeit vermuten, ist die Bedeutung der Vaterschaft in landwirtschaftlich geprägten Kulturen von großer Wichtigkeit, überhaupt bedeuten Kinder (mit möglicherweise unterschiedlichen Frauen) Macht und stützen den Clan), erfordert entsprechend der höheren Krankheitsgefahr hygienische Ge- und Verbote (wenn man auch die Krankheitsursachen nicht kannte, so schien man zu ahnen, dass Körperflüssigkeiten jeglicher Art zur Ansteckung führen könnten, wodurch sowohl Speise- als auch Reinlichkeitsgebote en masse errichtet werden; das Phänomen der Übergeneralisierung ist dabei Grund für obskure Bestimmungen wie die Trennung von Milchigem und Fleischigem oder die Verdammung der Homosexualität).

Ob man bei all dem den Autoren immer folgen kann oder mag, bleibt dahingestellt; in jedem Fall ist ihre Herangehensweise originell und vermag für die Interpretationen gute Gründe ins Feld zu führen. Ein weiteres Element in diesem Zusammenhang stellt die Interpretationen des Religiösen an sich dar: Van Schaik und Michel unterscheiden zwischen einer ersten (angeborenen) Natur, die für animistische Vorstellungen einer durchgehend belebten Umwelt sorgt (weil der Mensch bei allen Ereignissen immer nach einer Ursache sucht), einer zweiten (kulturellen) Natur, die wir von Kindesbeinen an kennenlernen und die so zu einer Selbstverständlichkeit wird und einer dritten, einer Vernunftnatur, die Lösungen für bestimmte, neu auftretende Probleme bereitsstellt, Lösungen, die – wenn sie sich bewähren – in die zweite Natur übernommen werden können. Ursprüngliche Religiosität ist deshalb jene Form des Animismus, der in fast allen Gesellschaften beobachtet werden kann und der sich heute in verschiedensten, esoterischen Strömungen wieder Bahn bricht. Die großen monotheistischen Religionen zählen die Autoren zur dritten Natur: Sie sind neu auftretende Erklärungsmodelle für neu auftretende Probleme der landwirtschaftlichen Massensgesellschaft. Sie sind nicht intuitiv verständlich und bieten keine praktikablen Lösungen, weshalb sie ständig hinterfragt, neu interpretiert und mit neuen Erklärungsmechanismen versehen werden müssen. Vor allem steht der eine Gott (den es in der Bibel so nicht gibt, Jahwe war ganz klar einer unter vielen) plötzlich unter einem Rechtfertigungszwang bezüglich einer Welt, die Katastrophen und Verheerungen bereit hält: Was eine Rückkehr zu einem dualistischen Prinzip zur Folge hatte, um dem unlösbaren Problem der Theodizee zu entgehen. Und im Christentum wurde schließlich auch der ersten Natur des Menschen Tribut gezollt: Mittlerweile rund 7000 Heilige wachen über kleine und kleinste Angelegenheiten, um ein animistisches Wohlgefühl zu erzeugen.

Diese dritte Natur des Menschen, die für die intellektuellen Aspekte der Religion zuständig ist, sehen die Autoren als Vorläufer der Wissenschaft. Diese Betrachtungsweise ist nachvollziehbar, denn tatsächlich handelt es sich bei beiden – Religion und Wissenschaft – um das Bemühen, ein zuvor unverständliches Geschehen (etwa die epidemisch auftretenden Krankheiten) in einen Ordnungszusammenhang zu stellen und Strategien zu entwickeln, um den Ereignissen zuvorzukommen bzw. sie zu bewältigen. Wenn allerdings dann im Früh- und Hochmittelalter das Christentum als eine Bewahrerin der antiken (wissenschaftlichen) Tradition dargestellt wird (im Sinne der Theorie, dass die dritte Natur in einer konsequenten Entwicklung von Religion zur Wissenschaft fortschreitet), so zeigen die Autoren eine eher oberflächliche Kenntnis dieser Geschichtsperiode. Denn nur sehr weniges wurde in den Klöstern tradiert, das meiste (fast 99 % der antiken Schriften) vernichtet und das Wenige oft nur gegen den Widerstand der herrschenden Kirchenkreise bewahrt. Weil die Autoren ihre Kontinuitätshypothese um jeden Preis aufrecht erhalten wollen, wird auch mit keinem Wort auf die Bedeutung des Islam für die Renaissance und das Widererstarken der Wissenschaft eingegangen. So entsteht der völlig falsche Eindruck einer fast peniblen Überlieferung wissenschaftlicher Schriften durch die Klöster, die antiken Schriften seien einzig durch die unruhigen Zeiten der Völkerwanderung verloren gegangen.

Ein anderer Kritikpunkt ist die in solchen Büchern häufiger auftauchende, etwas dümmliche Dawkinskritik. Dieser hat den „lieben“ Gott des Alten Testamentes nicht ganz zu Unrecht als die widerlichste Figur der Literaturgeschichte bezeichnet. Das finden nun die Autoren gar nicht angemessen, weil ja die Bibel eine so wunderbare Quelle für anthropologische Betrachtungen darstellt (was denn auch stimmt). Dawkins kritisiert nun keineswegs eine solche anthropologische Betrachtung oder die Bibel an sich, sondern einzig die Tatsache, dass Milliarden Menschen diese anachronistische Gruppenmoral mit all ihren Auswüchsen (die für die damalige Zeit sinnvoll gewesen sein können) noch immer als gültig und wahr, ja als von Gott persönlich überliefert betrachten. Das ist aber etwas ganz anderes: Der widerliche Gott Dawkins‘ ist widerlich nur dort, wo er heute für Diskriminierung von Homosexuellen, Frauen und Fremden steht, für eine rigide und anachronistische Gruppenmoral. Die Kritik richtet sich an Gläubige und Theologen, die dieser ungustiösen Erscheinung immer noch Autorität zugestehen, nicht aber an die literarische Kunstfigur des „lieben Gottes“.

Das Buch ist aber trotz einiger Simplifizierungen sehr lesbar, anregend und macht Lust auf Bibellektüre der anderen Art. Störend war manchmal die etwas geschwätzige Schreibweise (das Buch hätte problemlos auf 300 Seiten gekürzt werden können) bzw. die – wohl dem amerikanischen Markt geschuldete – übliche Vorsicht, die Gläubigen nicht allzu sehr zu verstören. So bezeichnen sich die Autoren auch als Agnostiker, eine – recht seltsame – Einstellung, die einzig gegenüber Gott oder göttlichen Wesen eingenommen wird. Prinzipiell ist nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand die Fehlbarkeit unserer menschlichen Erkenntnis betont (die sich allerdings von selbst versteht), seltsam nur, dass diese agnostische Einstellung gegenüber Feen, Quellnymphen, Zwergen, Hexen oder anderem märchenhaften Gelichter nicht eingenommen wird.


Carel von Schaik, Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2016.

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