Habent sua fata libelli: Als ich dieses römische Sprichwort vor ein paar Tagen zitiert hatte, ging es um ein ganz bestimmtes Exemplar eines Buchs aus meiner Bibliothek. Diesmal denke ich an das Schicksal des Textes, der als Rameaus Neffe veröffentlicht worden ist.
Und zwar veröffentlicht erst einige Jahre nach Diderots Tod im Jahre 1784. Zu seinen Lebzeiten wusste wohl außer ihm selber niemand überhaupt nur von der Existenz dieses Textes. Aus den Ereignissen, die im Dialog zwischen einem als Ich fungierenden Philosophen, der viele autobiografische Züge Diderots trägt, und dem sich als Neffe des damals sehr berühmten Musikers Jean-Philippe Rameau entpuppenden Fremden, erwähnt werden, können wir schließen, dass der Text wohl in wesentlichen Teilen nicht vor 1761 entstanden ist, und dass der Autor noch 1774 daran gearbeitet haben muss. Es werden nämlich verschiedene gesellschaftliche Skandale und Skandälchen aufgearbeitet – interessanterweise alle so, als ob sie erst in den letzten Tagen und Wochen vor dem Gespräch der beiden Protagonisten stattgefunden hätte. Es wirkt, wie wenn Diderot bewusst den Standpunkt eines Lesers eingenommen hätte, der den Text aus der Distanz von ein paar Hundert Jahren liest, und für den es keine Rolle mehr spielt, dass die geschilderten Ereignisse in unterschiedlichen Jahren stattgefunden haben, weil die dreizehn Jahre zwischen 1761 und 1774 aus der zeitlichen Perspektive praktisch zu einem Punkt zusammen schnurren. Wir dürfen also davon ausgehen, dass die 250 Jahre, die wir heute von den Ereignissen entfernt sind, von Diderot als durchaus korrekter Abstand betrachtet würden.
Eine Veröffentlichung des Dialogs zu seinen Lebzeiten hätte seinem Autor erhebliches Bauchgrimmen bereitet. Diderot verwendet bei der Schilderung des Lotterlebens der besseren Gesellschaft reale Ereignisse und die Klarnamen der Protagonisten. Es handelt sich bei diesem Text um eine Personalsatire vom Feinsten. Es zeugt für das gute Gespür des Autors, dass er Ereignisse zu wählen verstand, die auch heute noch, weit jenseits eines persönlichen Partei-Interesses, als Symptome einer verfaulten Gesellschaft aufgefasst werden können. Signalisiert wird Diderots Intention schon durch das einleitende Zitat aus den Satiren des Horaz, Geboren dem ungleichen (oder: wandelbaren) Gott Vertumnus. Denn um solche Wandlungen der Schicksale seiner Leute (Publizisten, Komponisten, SchauspielerInnen und deren Geliebte) geht es. (Alle stehen übrigens auf der Seite der Gegner der so genannten ‚Enzyklopädisten‘, der französischen Aufklärer, zu denen Diderot ja ebenfalls gezählt wurde. Dieser Aspekt des Dialogs stellt also auch eine Abrechnung mit den moralischen Qualitäten der Anti-Aufklärer dar.)
Der Dialog findet – zeittypisch – in einem Pariser Kaffeehaus statt (so, wie es auch die Parister Gesellschaft ist, die durchgehechelt wird). Das Café de la Régence gab es tatsächlich, und es war tatsächlich der Ort, an dem sich die Pariser Müßiggänger trafen, um Schach zu spielen – oder zumindest den Spielern zuzuschauen. Diderot war dort tatsächlich Stammgast – anders als der Besucher, den er dort eines Tages trifft: Rameaus Neffe, um ihn handelt es sich nämlich, wie sich herausstellt, und auch diese Person hat tatsächlich existiert – Rameaus Neffe also führt das Leben eines Parasiten. Allerdings durchschaut er die Mechanismen der französischen Gesellschaft am Vorabend der Revolution und versteht es, sie zu seinen Gunsten anzuwenden (meistens jedenfalls – auch er fällt hin und wieder auf die Schnauze). Sein Zynismus verunsichert zum Schluss auch den Ich-Erzähler (also: Diderot persönlich). Doch der Neffe ist selber kein stahlharter Zyniker. Im Laufe des Gesprächs offenbart er eine weichere Seite seines Wesens – da nämlich, wo es um die Musik geht und er de facto einen Monolog zum Thema hält, in dem er sich als gescheiterter Künstler entpuppt. Es ist davon auszugehen, dass Diderot das nicht gänzlich erfunden hat: Auch wenn es hier der Onkel ist und nicht der Vater – die Problematik des „Mein Vater ist ein großer und berühmter Künstler und ich bin nur ein Stümper!“ kennen wir aus zu vielen Biografien solcher Söhne.
Haben sua fata libelli: Ich bin von der Publikationsgeschichte dieses Dialogs abgekommen. Nämlich: Diderot – wohl wegen der vielen Invektiven gegen noch lebende und einflussreiche Persönlichkeiten – hielt also dieses sein Werk zurück. Niemand wusste oder erfuhr auch nur von dessen Existenz. Selbst in seinen Briefen an Freunde (und Diderot war ein exzessiver Briefschreiber) wird nie erwähnt, dass er an einem solchen Dialog arbeite. Nach seinem Tod kam das Manuskript – zusammen mit seiner Bibliothek – in den Besitz der russischen Zarin Katharina I. Dort erhielt ein Ordonnanzoffizier im Rang eines Leutnants im Marinebataillon des Thronfolgers den Auftrag, diese Bibliothek zu sichten. Dabei fand dieser das Manuskript, das im Übrigen nur den Titel Zweite Satire trug (es gab auch eine andere, erste – aber diese ist geistesgeschichtlich von keinem Interesse). Bei diesem Ordonnanzoffizier (den die französische Wikipedia einfach einen Russen nennt!) handelte es sich um keinen geringeren als den ehemaligen Stürmer und Dränger Friedrich Maximilian Klinger. Der erkannte den Wert dessen, was er da vor sich hatte und schickte eine Abschrift an den Dichterfreund Schiller, der sie wiederum Goethe präsentierte. Dieser nun übersetzte den Text, gab ihm den Titel Rameaus Neffe und veröffentlichte das Ganze zum ersten Mal 1805. Wir haben somit das Phänomen vor uns, dass ein ursprünglich auf Französisch geschriebener Text eines französischen Autors (und zwar keines geringen!) zuerst auf Deutsch erschienen ist. (Erst 1821 erschien der Text zum ersten Mal in Diderots Muttersprache, und zwar in einer Rückübersetzung der Goetheschen Version.)
Meine Ausgabe*) enthält zusätzlich zu Rameaus Neffe einige weitere kurze, mehr oder weniger moralische Texte Diderots. Da ist die Klage um meinen alten Schlafrock, ein kleines Genre-Bild über die vermeintliche Gefahr des einsetzenden Luxus – ein Verdacht, dem sich der Ich-Erzähler ausgesetzt sieht, nachdem er einen Auftrag zur Berichterstattung über eine Bilderausstellung erhalten hat. Auch hier ist das erzählende Ich mit Diderot identisch. Es folgt die Erzählung Die beiden Freunde von Bourbonne – ein Hohes Lied auf die Freundschaft, das noch von Goethe in Dichtung und Wahrheit erinnert wird. Das Gespräch eines Vaters mit seinen Kindern ist – zumindest im Setting – ebenfalls autobiografisch. Hier spricht Diderots Vater mit seinen beiden Söhnen. Es geht, um mich auf die abstrakte Ebene zu konzentrieren, darum, dass der Philosoph Denis im Namen des Naturrechts das überlieferte positive Recht, das sein Vater vertritt, in die Schranken weist. Weiter. Dies ist keine Erzählung, sondern eher eine Art literarisches Experiment – jedenfalls fängt es als solches an. Diderot nämlich, einmal mehr darin begriffen, eine völlig unwahrscheinliche, aber sich ereignete Begebenheit zu schildern, integriert einen noch und noch Widerspruch gegen neue unwahrscheinliche Wendungen einlegenden Leser gleich in die Geschichte selber. Wir sind hier schon beim späten Diderot, der diesen Text, zusammen mit dem folgenden (Madame de la Carlière, in dem die Beziehung zweier Menschen aus immer neuen Gesichtspunkten diskutiert wird) und dem nun ganz wichtigen Nachtrag zu Bougainvilles Reise als eine Art Triptychon zusammen fassen wollte. In diesem letzten Text finden wir nämlich eine Auseinandersetzung mit dem Topos des ‚edlen Wilden‘, als welchen auch Diderot die Bewohner der Südsee-Inseln auffasst, und wie er von Bougainville und seinen Reisegefährten beliebt gemacht wurde. Es ist das einfaches Leben der Südsee-Insulaner, ihre Friedfertigkeit und ihre schon fast anarchistisch zu nennende gesellschaftliche Organisation, die Diderot an ihnen rühmt (bzw. seine Erzähler rühmen lässt). Nirgends in seinen Schriften ist Diderot sonst so nahe an Rousseauschem Gedankengut, an anarchistisch-utopischem auch. (Und wohl nirgends auch – zumindest, was die ‚Wilden‘ angeht – so weit von den tatsächlichen Fakten…)
Alle diese Texte sind heute noch interessant, auch wenn sie im 18. Jahrhundert kaum Publikum hatten und zeitgenössisch wirkungslos blieben. (Die beiden Freunde und das Gespräch eines Vaters sind übrigens, wie Rameaus Neffe zuerst in einer deutschen Übersetzung erschienen, 1772 in Zürich. Der Übersetzer war Salomon Gessner, und das Buch trug den wenig verheißungsvollen Titel Moralische Erzählungen.) Es lohnt sich aber, auch diese ‚kleinen‘ Texte Diderots zu lesen.
*)Denis Diderot: Das erzählerische Werk in vier Bänden. O.O.: Aufbau-Verlag, 1995