Shlomo Sand: Warum ich aufhöre, Jude zu sein – ein israelischer Standpunkt

Shlomo Sand gehört zu jenen Intellektuellen, die man einem Land nur wünschen kann – auch wenn er aufgrund seiner Thesen in Israel wenig Zustimmung erfahren wird. Er ist mutig im Denken, weil er vor keinen implizit oder explizit ausgesprochenen Verboten zurückscheut; er kritisiert nicht nur den Umgang seines Landes mit den Palästinensern, sondern auch die höchst zweifelhafte Instrumentalisierung des Holocaust.

Er will nicht mehr Jude sein – heißt: Er will Israeli sein, ein säkularer Israeli in Gemeinschaft mit allen anderen dort wohnenden, geborenen Menschen unabhängig von Religion und Herkunft. Aber ein Vollbürger Israels ist man nur, wenn man entweder eine jüdische Mutter hat oder aber ausdrücklich zum Judentum konvertiert. Was zur Folge hat, dass das Kind eines jüdischen Mannes mit einer nichtjüdischen Frau diesen Status nicht erreichen kann. Und nicht nur das: Eine Ehe zwischen Partnern, von denen einer nicht jüdischen Glaubens ist, kann in Israel gar nicht rechtsgültig geschlossen werden, da die Religion Derartiges verbietet. Dies in einem Land, das eigentlich westlichen Werten sich verpflichtet sieht und nur aus dem Grund, um einer „rassischen“ Unterwanderung – vor allem seitens der Palästinenser – Einhalt zu gebieten. Israel ist das einzige Land mit gelebter und staatlich autorisierter Apartheid, nirgendwo sonst sind ähnlich archaische und fast schon grotesk anmutende Regelungen zu finden.

1967 wurde schon von Tom Segev als der Sündenfall gebrandmarkt: Und auch Sand sieht in der Besetzung des Westjordanlandes, des Gazastreifens die Ursache für ein unlösbares Problem. Man hat Land erobert, „heiliges“ Land, aber ein bewohntes Land, von Palästinensern bewohnt. Und so will man einerseits keinesfalls die eroberten Gebiete abtreten, ist zum anderen aber mit den dort ansässigen Palästinensern konfrontiert, die man unter keinen Umständen in Israel als Bürger integrieren will. So scheint es das Schicksal dieses Landes, dass man den Status quo weiter perpetuieren wird, dass es weiter Aufstände, Anschläge geben wird, weil die Palästinenser zu Recht nicht auf dieses ihr Land verzichten werden wollen.* Und seit 1967 wurde diese ohnehin schon verfahrene Situation permanent dadurch verschärft, dass auf palästinensischen Gebiet zahlreiche jüdische Siedlungen angelegt wurden (wenn man sich den lächerlichen „Friedensplan“ der beiden präsumptiven Verbrecher Trump und Netanjahu ansieht, sollte jedem die Unhaltbarkeit dieser „Lösung“ einleuchten).

Aber Sand kritisiert nicht nur den Umgang mit den Palästinensern, sondern das ganze Selbstverständnis des jüdischen Staates. Das beinhaltet nicht nur die unsinnigen Staatsbürgerschaftsregelungen (die einem Kind irgendwo auf der Welt, das eine jüdische Mutter hat, die Staatszugehörigkeit auf Antrag gewährt (und das dabei kein Wort Hebräisch, Arabisch oder Jiddisch können muss), nicht aber jenem, das in Israel als Kind einer nichtjüdischen Mutter geboren wird), sondern auch den Umgang mit der eigenen Vergangenheit. So die versuchte Auslöschung der jiddischen Sprache und Kultur, weil diese mit vorgeblich mit einer „schwachen“ Haltung assoziiert wurde oder auch (allerdings erst nach 1967) die Instrumentalisierung des Holocaust, die zu seltsamen Blüten führte (selbst marrokanische oder irakische Juden entdeckten plötzlich in Auschwitz ermordete Vorfahren) und in einer Holocaust-Industrie (Norman Finkelstein) mündete, die Ansprüche in dritter und vierter Generation stellte. Wobei eine Art von KZ-Geschichtsklitterung erfolgreich betrieben wurde: Obschon in den Vernichtungslagern der Deutschen insgesamt rund 10 bis 11 Millionen Menschen ermordet wurden, würde man mittlerweile auf die Frage nach der Zahl der Toten einzig jene 6 Millionen zur Antwort erhalten, die jüdischer Herkunft waren. Sand beschreibt die unbedingte Wahrung einer exklusiven Opfermentalität: So wurde bei Gedenkfeiern einem Vertreter der Sinti und Roma ein Redeverbot erteilt oder aber dem Völkermord an den Armeniern diese Bezeichnung zu versagen versucht. Und Kritik an der Politik Israels wird mit dem Hinweis auf Antisemitismus per se für unerlaubt erklärt. Vieles von dem, was Sand hier zu Recht aufs Schärfste kritisiert, könnte kaum von einem Nichtjuden geäußert werden, weil dann nicht mehr über die monierten Fakten gesprochen werden würde, sondern über die offenkundig „antisemtische“ Haltung des Kritikers.

Sand resümiert betroffen: „Ich bin mir bewusst, dass ich in einer der rassistischsten Gesellschaften der westlichen Welt lebe. Rassismus gibt es natürlich fast überall, doch in Israel ist er dem Geist der Gesetze eingeprägt, wird über das Bildungssystem weitergegeben und in den Medien verbreitet. Das Schlimmste aber ist, dass sich Rassisten in diesem Land ihres Rassismus überhaupt nicht bewusst sind und keinerlei Bedürfnis haben, sich dafür zu entschuldigen. Da dieses Bedürfnis fehlt, wird Israel heutzutage von vielen Bewegungen der radikalen Rechten weltweit bewundert – von Bewegungen, die in der Vergangenheit als antisemitisch galten.“ Sand verleiht der Hoffnung Ausdruck, dass es irgendwann doch zu einem säkularen, israelischen Staat kommen wird (in dem er Israeli sein kann und kein Jude sein muss), aber er verweist auch darauf, dass er ein hoffnungsloser Optimist sei. Sein will. Tatsächlich gibt es derzeit weniger denn je Anlass für eine solche Hoffnung. – Das Buch ist brilliant und stellt noch zahlreiche zusätzliche Facetten des Israelitums dar – ein bereichernder Lesegenuss!


*) Es verdient Erwähnung, das selbst jenes Gebiet, dass dem Staate Israel zugesprochen wurde, im Jahre 1948 nur zu etwa 10 % jüdischen Einwohnern gehörte (wobei diese es von arabischen Stammesführern erwarben, denen die dort als Pächter siedelnden Palästinenser völlig egal waren – wie auch den jüdischen Käufern).


Shlomo Sand: Warum ich aufhöre, Jude zu sein – ein israelischer Standpunkt. Berlin: Ullstein 2013.

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