Wolfgang Hildesheimer: Mozart

Als ‘Essay’ bezeichnete Wolfgang Hildesheimer den vorliegenden Text über seinen Vornamensvetter Wolfgang Amadeus Mozart. Für einen Essay ist das Buch mit seinen über 400 Seiten etwas lang geraten, und weil Hildesheimer den Ereignissen in Mozarts Leben doch einigermaßen chronologisch folgt, hat man seinen Text auch schon – nicht zu Unrecht, wie ich finde – als ‘Biografie’ etikettiert. Doch die Textsorte sei, was immer sie sein will. Wichtiger ist wohl die Frage, ob man das Buch, das in seinen Wurzeln auf das Jahr 1954 zurückgeht und in der vorliegenden Form 1977 veröffentlicht wurde, heute, 2020, noch lesen kann und soll.

Eines der Ziele Hildesheimers war es ja, die bis dahin überkommene Mozart-Rezeption als das zu entlarven, was sie tatsächlich war: eine meist völlig unkritische Übernahme von Aussagen aus Leuten seiner Bekanntschaft und Verwandtschaft, insbesondere seiner Witwe Constanze. Aussagen, die allesamt Jahre und Jahrzehnte nach Mozarts Tod getroffen wurden, als dieser unterdessen weltberühmt war; Aussagen, die ganz eindeutig dazu dienten, an der Legende ‘Mozart’ zu stricken, wobei man sich selber als (meist sehr wichtigen) Teil dieser Legende mit einband, dabei sowohl Mozart wie sich selber natürlich im besten Licht darstellend. Diese Form von Rezeption ist heute zumindest bei wissenschaftlichen Publikationen verpönt; eine Kritik daran tönt aus diesem Grund im Jahr 2020 banal, war es aber zumindest bis in die Mitte der 1950er ganz sicher nicht.

Habent sua fata libelli. Hildesheimers Mozart war lange Zeit eines meiner Lieblingsbücher. Dennoch habe ich es wohl vor einem Vierteljahrhundert zum letzten Mal gelesen. Nun ist es mir kürzlich bei einer Umräumaktion unter meinen Büchern wieder in die Hände gefallen. Fast automatisch legte ich es auf den Stapel der auszusortierenden Bücher. Dann aber sagte ich mir, dass ich es zumindest noch einmal lesen wolle, um meinen heutigen Eindruck mit meinen Erinnerungen zu vergleichen.

Nach dieser Lektüre nun muss ich sagen: Hildesheimer wendet sich zwar immer und immer wieder gegen die Idolisierung Mozarts in der Literatur, strickt aber seinerseits an einer Art von Legende – einfach einer ein wenig anderen. Für ihn ist Mozart der große Einsame, der Unverstandene, der sich nicht verständlich machen konnte, ja wollte. Der sich vielleicht nicht einmal selber verstand, vor allem aber keine Gedanken daran verschwendete, sich dem Rest der Welt verständlich machen zu wollen. Das ist, so suggeriert er, die Konsequenz daraus, dass Mozart derart überbegabt war, dass gewöhnliche menschliche Gefühle und Gedanken sich nicht in ihm ausbreiten konnten. Sein oft seltsames Verhalten in Gesellschaft – Mozart pflegte den Clown und Hanswurst zu machen, ohne sich um irgendwelche Konventionen zu scheren, oder auch nur Anstand und Sitte – ist für Hildesheimer das Ventil, das der angespannte Geist benötigte, um nicht zu explodieren. Eigentlich, so unser Autor, brauchte Mozart keinen Menschen, hatte deswegen – mit Ausnahme des ebenso begabten Haydn, der in diesem Essay aber eine Schattengestalt bleibt – auch keine Freunde. Selbst die Mitgliedschaft in einer Freimaurerloge scheint, so Hildesheimer, eher geschäftliches Kalkül gewesen zu sein – ein Kalkül, das insofern aufgegangen ist, als einer der letzten, die Mozart in seinen letzten Jahren noch Geld liehen, ein Freimaurer-Bruder war. Nun, an Wolfgangs Unfähigkeit zu vertieftem menschlichem Kontakt würde ich – anders als Hildesheimer – wohl eher Vater Leopold die Schuld geben, der mit Klein-Mozart und dessen Schwester als eine Art Familien-AG in ganz Europa herumzog und seine Wunderkinder allabendlich woanders vorführte. So, praktisch nur auf innerfamiliäre Beziehungen reduziert, kann ein Kind nicht lernen, gesellschaftliche Bindungen in irgendeiner Form einzugehen. Klein-Mozart waren diverse Musikinstrumente beigebracht worden, auf der Klaviatur der Gefühle und der Höflichkeit spielen zu lernen, war nicht in Leopolds Unterrichtsplan vorgesehen. Hildesheimer behauptet, Wolfgang Amadeus hätte nicht darunter gelitten. Wahrscheinlich wirklich nicht: Man kann nicht an der Abwesenheit von etwas leiden, dessen Anwesenheit man nie kennen und schätzen gelernt hat. Aber nicht nur deswegen ist Mozart für den Autor Hildesheimer eine Art Wesen von einem anderen Stern. Was dies ausmacht, ist auch bei ihm Mozarts ‘Genie’. Er vermeidet zwar wo möglich das Wort „Genie“ und verwendet lieber Überbegabung – gemeint ist dasselbe. Und ein Genie kann halt ausschließlich von einem andern Genie verstanden werden.

Letzten Endes war es für Hildesheimer also die angeborene Unfähigkeit (die ich anerzogen nennen würde), mit anderen Menschen zu kommunizieren, die Mozart von der Mitwelt mehr und mehr separierte: Schon in Paris, mit seiner Mutter zusammen untergebracht bei Melchior Grimm und zum ersten Mal nicht mit seinem Vater auf einer größeren Reise, sehen wir mit Staunen, dass er diesem in seinen Briefen zunächst die schwere Erkrankung und dann den Tod der Mutter vorenthält, dafür eigene zweifelhafte Erfolge erwähnt und Pläne schmiedet, von denen der Vater genau weiß, dass es sich um reine Luftschlösser handelt. Mozarts kommunikative Strategien sind einigermaßen seltsam – und selten oder nie zielführend, weil er nicht gelernt hatte, auf andere Menschen einzugehen.

Den Höhepunkt von Mozarts schöpferischer Tätigkeit sieht Hildesheimer in dessen Opern – vor allem in denen, zu denen Lorenzo da Ponte die Libretti geschrieben hatte (die frühen, zum Teil mit Libretti von Metastasio, leiden für ihn darunter, dass Mozart hier noch nicht wagte, in den Text einzugreifen und ihn bühnengerecht zuzubereiten, die späte Zauberflöte dann an der Wurschtelei Schikaneders). Unter den da-Ponte-Opern wiederum ist es Don Giovanni, den Hildesheimer am meisten schätzt. Ich will hier nicht auf die musikwissenschaftlichen Aspekte eingehen, sondern nur erwähnen, dass ein Dreh- und Angelpunkt in Hildesheimers Interpretation jene Bemerkung Goethes zu Eckermann ist, in der der alte Mann zu Weimar am 12. Februar 1829 in Bezug auf eine Vertonung des Faust meinte:

Es ist ganz unmöglich. Das Abstoßende, Widerwärtige, Furchtbare, was sie stellenweise enthalten müßte, ist der Zeit zuwider. Die Musik müßte im Charakter des »Don Juan« sein; Mozart hätte den »Faust« komponieren müßen.

Das enthält für Hildesheimer einerseits ein fürchterliches Missverständnis der Mozartschen Musik, die immer aufs Sinnliche ausgerichtet sei und dem aufs Geistige ausgerichteten Faust nicht gerecht werden könnte – Faust, der ja anders als der auf fleischliche Freuden erpichte Don Juan sehr zur Selbstreflexion neigte; andererseits aber ist Goethes Aussage für ihn auch ein Hinweis darauf, dass das Publikum zumindest in den ersten Jahren nach Mozarts Tod dessen Musik immer noch als aktuell anerkannte, sie noch keine Lösung aus der Vergangenheit darstellte, die der Gegenwart fremd geworden wäre. Vor allem aber auch, dass das Publikum offenbar noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Mozarts Musik äußerst düstere Komponenten hörte. Neben Goethe ist für Hildesheimer noch ein anderer musikalischer Laie in dessen Auseinandersetzung mit Mozart und der Musik immer wieder nennenswert: der Ästhetiker Kierkegaard – vor allem, weil auch dieser sich mit der Figur des Don Juan auseinander gesetzt hatte.

Mozart war für Hildesheimer dennoch kein „tragischer“ Komponist. „Tragisch“ zu sein hätte bedeutet, innere Kämpfe ausgefochten zu haben, was er Mozart abspricht. (Weshalb er auch nicht müde wird, jeden Vergleich Mozarts mit Beethoven – auch das ein typischer Reflex der Kritik bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts – abzulehnen. Und wenn er nicht müde wird, von Mozart als von einem Rokoko-Musiker zu sprechen, liegt darin vielleicht auch, dass er der scheinbar unbeschwerten Heiterkeit, die sich für uns hinter diesem Wort versteckt, trotz allem den Vorzug vor dem weihevollen Ernst des Wortes (Wiener) Klassik gibt.) Jedenfalls setzt sich Hildesheimer ganz in Gegensatz zu den Interpretationen des bisher verstrichenen 20. Jahrhunderts – Interpretationen, die immer wieder Mozart als Tragiker sehen, ihn gar seinen frühen Tod ahnen lassen. (Für Hildesheimer kam der Tod auch für den Komponisten selber überraschend, wahrscheinlich in Form einer heftigen Infektion, denn nichts an den Berichten von und über Mozart lasse eine gebrechliche Konstitution vermuten.) Wolfgang Amadeus, das gibt er zu, ist in seinen letzten Wiener Jahren zusehends vereinsamt – vor allem, weil er selber mit der üblichen ‘guten’ Gesellschaft immer weniger habe anfangen können. Wien, das sei wahr, habe ihn zum Schluss vergessen. Anders war es z.B. in Prag, wo er auch in seinen letzten Jahren Erfolg auf Erfolg häufte – nur hatte er nichts davon, denn in jener Zeit war ein musikalisches Werk, einmal geschrieben und aufgeführt (diese eine Aufführung wurde bezahlt), Gemeingut. Das Geld kassierten andere; Mozart häufte Schulden an.

Letzten Endes, so Hildesheimer in nuce, verstehen wir Mozart auch heute nicht, weil sich sein Genie dem Normalsterblichen entzieht. Es ist ihm zu Gute zu halten, dass Hildesheimer sich nicht eine heilende Kraft der Humaniora (de facto: der glorifizierten Antike) zurück zieht, wie es der Ich-Erzähler Serenus Zeitblom in den Anfangskapiteln von Thomas Manns Doktor Faustus tut, wo wir in der Gestalt von Adrian Leverkühn einen ähnlich ‘fühllosen’ Komponisten vor uns haben, wie ihn uns Hildesheimer in Mozart beliebt machen will, und wo auch Zeitblom zugeben muss, seinen Schulfreund Leverkühn nicht verstehen zu können. (Wie weit Hildesheimer mit solchen Anklängen an Thomas Manns Roman spielt in seinem Text, wäre eine genauere Betrachtung wert. Vielleicht haben wir ja eine Parodie der Parodie vor uns? Das würde jedenfalls den heutigen Wert dieses Textes enorm steigern. Aber der Essay wäre natürlich keiner mehr, sondern wir hätten einen literarischen Text vor uns – was Hildesheimer immer bestritten hatte.)

Alles in allem: Hildesheimers Position ist heute noch interessant, selbst wenn sogar er Mozart ebenfalls glorifiziert – wenn auch anders und subtiler als seine Vorgänger. (Aber behalten werde ich das Buch doch nicht…)

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