Else Lasker-Schüler: Helles Schlafen – dunkles Wachen

Wie viel der persönliche Geschmack ausmacht bei der Zusammenstellung einer Auswahlausgabe, habe ich gerade festgestellt bei der Lektüre der Auswahl aus Lasker-Schülers Gedichtband Helles Schlafen – dunkles Wachen, wenn ich ihn vergleiche mit der erst vor kurzem hier vorgestellten Auswahlausgabe wir beide. Friedhelm Kemp, so heisst der Herausgeber von Helles Schlafen – dunkles Wachen, hat zwar auch einige der Liebesgedichte Lasker-Schülers mit einbezogen. Es sind aber sehr, sehr viele andere noch zusätzlich ausgewählt worden.

So zeigt Helles Schlafen – dunkles Wachen Else Lasker-Schüler in einem doch etwas anderen Licht als wir beide. Da ist zuerst die stärkere Betonung der jüdischen Wurzeln der Dichterin. Einige Gedichte sind gar – eine Ausnahme, weil sonst die erwähnten Männer allesamt ihre Geliebten sind oder waren – dem österreichischen Essayisten Karl Kraus gewidmet. Vor allem erzielt Kemp die starke Betonung von Lasker-Schülers Judentum dadurch, dass er nicht wenige Gedichte aus den Hebräischen Balladen an den Anfang der Auswahl stellt. Bei diesen Gedichten handelt es sich formal nicht um Balladen im literaturwissenschaftlichen Sinn. Lasker-Schüler erzählt vielmehr, gedrängt, in wenigen Zeilen, und durchaus in expressionistischer Manier, einige Geschichten aus dem Alten Testament nach: die von Moses, die von Kain und Abel, die von Jakob und Esau, die von Joseph und dem Pharao … Es sind keine religiösen Gedichte. Eher ist es os, dass auch in ihnen im Gegenteil ein unbestimmter Weltschmerz zum Vorschein kommt, ein Weltschmerz, der mit Glauben nichts zu tun hat. Selbst die Liebesgedichte, und es hat ihrer doch auch ein paar, wirken weniger farbig oder gar fröhlich, wie in der Auswahl von Eva Demski. Es dominieren die Farben Weiß, Schwarz und Grau – sofern man diese überhaupt ‚Farben‘ nennen will. Das gibt der Auswahl die leichte Melancholie, die uns im 21. Jahrhundert überkommt, wenn wir alte Schwarz-Weiß-Fotos betrachten. Oft genug – wie im Titel der Auswahl – gibt die Dichterin auch nur noch Schattierungen an, wie eben Hell und Dunkel.

Im Grunde genommen bestätigen mich die beiden Ausgaben, dass man – wenn man einen Dichter, eine Dichterin, wirklich ganz kennen lernen möchte – vollständige Werkausgaben von A bis Z durchlesen sollte.


Else Lasker-Schüler: Helles Schlafen – dunkles Wachen. Ausgewählt von Friedhelm Kemp. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 4 1967. [Erschienen als Band 1 in der sonderreihe dtv, zu einer Zeit, als sich auch die großen Publikumsverlage noch einer gewissen literarisch-bildenden Mission verpflichtet fühlten, und entsprechende Reihen publizierten. Alle diese Reihen sind seit langem eingestellt 🙁 ]

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