Karl Sigmund: Sie nannten sich Der Wiener Kreis

Karl Sigmund ist Mathematiker – und das merkt man diesem Buch auch an. Im Gegensatz zu den meisten anderen Darstellungen des Wiener Kreises legt er sein Augenmerk (u. a.) auf diesen meist vernachlässigten Bereich, auf Wissenschaftler wie Karl Menger, Hans Hahn oder Kurt Gödel. Das unterscheidet die Darstellung von anderen Werken (wie etwa von Friedrich Stadler, der mehrere ausführliche Monographie zu diesem Thema herausgegeben hat oder der eher populären Darstellung durch Manfred Geier).

Ich habe diesen mathematischen Einschlag als positiv empfunden: Da man auf knapp 400 Seiten ohnehin kein umfassendes Bild der philosophischen Auseinandersetzungen des oft disparaten Wiener Kreis zu geben vermag, brachte die erwähnte ausführlichere Behandlung der Mathematiker doch einiges Neue. Dazu hat Sigmund auch zahlreiche persönliche Briefe und Notizen ausgewertet, die ich in dieser Form in anderen Publikationen nicht gelesen zu haben meine. Sehr häufig werden dadurch die Animositäten zwischen den einzelnen Mitgliedern sichtbar (etwa das oft gespannte Verhältnis zwischen Moritz Schlick und Otto Neurath) oder man erfährt von informellen Einschätzungen (wie etwa die von Schlick über Poppers Erstling): „Es ist eine außerordentlich kluge Arbeit, meinte Schlick von der Logik der Forschung, aber ich kann sie doch nicht mit ganz reiner Freude lesen. Dabei glaube ich sogar, dass er – bei wohlwollender Interpretation – fast überall recht hat. Aber seine Darstellung erscheint mir irreführend, denn in dem unbewusstem Bestreben, seine eigene Leistung möglichst originell hervortreten zu lassen, macht er aus wirklich ganz unwichtigen, ja teilweise nur terminologischen Abweichungen von unserem Standpunkt prinzipielle Gegensätze (er hält sie wirklich dafür), und dadurch wird die Perspektive verzerrt. – Mit der Zeit wird sein Selbstbewusstsein schon geringer werden.“ Das kommentiert Sigmund trocken: „Diese Vermutung gilt inzwischen als falsifiziert.“ Womit er Recht hat.

Wer auf Feinheiten philosophischer Auseinandersetzungen wartet, wird eher enttäuscht werden: Das allerdings scheint nicht im Sinne des Autors gewesen zu sein. Ihm ist es mehr um eine alternative Betrachtung des Philosophenzirkels zu tun mit starker Berücksichtigung der sozialen und politischen Umstände. Wobei der Autor um möglichst große Distanz, Objektivität bemüht ist (ein Umstand, der mich manchmal gestört hat: Man kann, wenn man dies explizit vermerkt, durchaus Stellung nehmen zum Beschriebenen), sich Wertungen versagt, wenngleich die bloße Schilderung all der Schwierigkeiten, mit denen sich der Kreis in der Zwischenkriegszeit (und besonders nach der Machtübernahme durch die Austrofaschisten) konfrontiert sah, eigentlich ausreicht. Im Abschlusskapitel wird dann die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg geschildert, die Feigheit der politisch Verantwortlichen, die sich nicht im mindesten bemühten, die zur Auswanderung gezwungenen Intellektuellen zur Rückkehr zu bewegen (und der Wiener Kreis war die einzige philosophische Strömung von Bedeutung, die es je in Österreich gegeben hat), sondern im Gegenzug den wenigen im Land Verbliebenen das Leben noch schwer machten. So beförderte man den sich selbst als „Substanzmetaphysiker“ bezeichnenden Erich Heintel (einen ehemaligen NS-Parteigenossen) auf den Lehrstuhl Schlicks (wobei man Leute wie Bela Juhos oder Friedrich Waismann geflissentlich ignorierte). Und als sich der Mörder Schlicks von Viktor Kraft nach dem Krieg angegriffen fühlte (er hatte ohnehin nur 1,5 Jahre im Gefängnis verbracht, weil die Nationalsozialisten den Mörder des Judenfreunds Schlick alsbald begnadigten) und sogar einen Prozess wegen übler Nachrede anstrebte (den er immerhin verlor), entsprachen die Zeitungskommentare (mit der Empfehlung, diese alten Sachen ruhen zu lassen) genau dem Verhalten der Politik, die vom Faschismus österreichischer oder deutscher Prägung nichts mehr zu wissen vorgaben.

Das Buch liest sich leicht, kann auch als leicht fassliche Einführung in die Gedankenwelt des Wiener Kreises angesehen werden. Seine Qualitäten liegen aber in den Darstellungen Gödels (das vor allem) und der anderen Mathematiker – und in der amüsanten Beschreibung der vielen Querelen, die sich auch nach Ende des Philosophenzirkels noch fortsetzten (wenn sich etwa Karl Popper selbstgefällig als der „Mörder“ des Positivismus gerierte und später nichts mehr davon wissen wollte, wie sehr er von den Gedanken des logischem Empirismus geprägt war). Manchmal war ich mit dem Stil Sigmunds nicht ganz glücklich, alles in allem aber eine sehr unterhaltsame und lohnende Lektüre.


Karl Sigmund: Sie nannten sich Der Wiener Kreis. Wiesbaden: Springer 2018.

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